Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeehrter Herr Doctor!

Kaum hatte ich Ihr geehrtes Schreiben vom 14ten d. M. empfangen, und mit jener tiefwarmen – darf ich es sagen? – kindlichen Pietät und Hingabe gelesen, welche, seit ich überhaupt musikalisch denke und lebe, mich sowol für Sie, theuerer, einzig noch blühender Stamm unserer großen Meister, als für die Werke Ihres hohen Genius erfüllt; bin ich alsogleich zu Hrn Zellner1 gegangen, theils um ihn den Inhalt Ihrer Zeilen kund zu thun, theils um – ihm vereint – zu überlegen, was in der Sache Ihrer herrlichen Oratorien weiter zu thun sei. Wie aus Einem Munde stellte sich folgendes Ergebniß unserer Gespräche heraus: Sie, hochgeehrter Doctor, sind die Achse, der Brennpunkt, die einzig haltbare Zugkraft, um die sich die Frage nach der Einführung ihrer geistlichen Tonwerke auf hiesigem Boden dreht, Ihr persönliches Erscheinen daher bei und unter uns dringlich, ja einzig notwendig. Der Süddeutsche legt – ob mit Recht oder mit Unrecht, bleibe dahingestellt – nach seiner eigenen Denk- und Fühlart das höchste Gewicht auf den Namen und die Persönlichkeit desjenigen Künstlers, den zu hören ihm die Aussicht gestellt. Die Sache, den Gehalt seines Wirkens läßt sich der etwas denkträge Südländer erst nach und nach einflößen und beibringen. Er fragt zuerst nach dem Wer, und erst hintendrein nach dem Was und Wie. Erscheinen Sie, tiefverehrter Doctor und Meister, persönlich in unserer Stadt; so ist der Sieg Ihrer Dichtungen beinahe schon im Vorhinein festgestellt. Ich rede selbstverständlich vom sogenannten Concertpublicum, nicht von den Fachmusikern. Kämen Sie aber nicht sicher; so muß ich – einer Ihrer glühendsten Verehrer, der für Ihre herrlichen Tondichtungen, aus lebendigster Erkenntniß und wärmster Durchfühlung derselben, schon vor Jahren hier Proseliten durch Wort und Schrift zu machen2 versucht hat, doch leider nicht durchdgedrungen ist – Ihnen3 offen sagen: Da würde Alles vereitelt, was Sie begreiflicherweise wünschen, ich aber – der ich aus früheren Partiturstudien und lebendigem Hören Ihre Oratorien, wie Alles, was Sie gedichtet, so genau kenne, daß ich es4 notengetreu bis in die unscheinbarste Stimme hinein niederschreiben könnte – so glühend schon seit dem Augenblicke ersehne, wo aus mir, dem einstigen Prager Studenten, ein Wiener Journalist, Literatur und Musiker im Sinne der großen Vergangenheit und Gegenwart derselben Künste5 geworden. Ich sage dies nicht eines Selbstlobes wegen. Ich weiß nur zu gut, wie nieder ich stehe. Ich wollte hiemit nur meine begeisterte Empfänglichkeit für Musik überhaupt, namentlich für die Ihre bezeichnen, die mit meienr Seele so eng verwachsen ist, daß es Zeiten gegeben hat und noch gibt, wo nur Spohr’sche Klänge mich erheitern, trösten, beruhigen, kurz begeistern können. Darum aber wird Ihnen, verehrtester Herr Doctor, nur wenig liegen. Also weiter in usnerer Sache! Kommen Sie, großer Meister, kommen Sie zu uns; ich beschwöre Sie darum! doch nein: ein Spohrianer meiner Art muß anders reden, er muß sagen: Sie müssen kommen; dann wird sich Alles nach Ihren Wünschen wenden. Aber unter welchen Modalitäten? Das ist die Frage, über die Sie so gütig sein müssen, Ihren treuesten Wiener Anhänger mit sich reden zu lassen. Ich sehe wol ein, daß Ihnen bei jetziger rauher Jahreszeit eine Reise hieher beschwerlich fiele, ja, daß sie Ihnen sogar von Hedem widerrathen werden müßte, der Sie verehrt, liebt, daher die lange Dauer Ihres theueren Lebens wünscht, an das sich bedeutungsvolle Fragen der Kunst schließen. Allein, verehrter Doctor: die Wiener Concertzeit dauert ja von November bis April. Die Fastenzeit ist die für Oratorienaufführungen ganz vorzüglich bevorechtete. Diese fällt im Jahre 1859 in die schönste Frühlingszeit. Sagen Sie uns ja für diese Zeit Ihren Besuch mit Entschiedenheit zu! Machen Sie die Reise nach Bequemlichkeit! Uibernachten Sie, falls die Eisenbahnfahrt Sie ermüden sollte, mehrere Male, sei es wo immer! Aber nur kommen sie, ich bitte Sie kommen Sie gewiß! Dann sagen Sie bestimmt zu – wird sich auf der Stelle Einer finden, der das Heft der Leitung aller Vorproben, Einer ja Viele, die das [???]amt in die Hand nehmen,6 und eine Masse derer, die zuströmen werden, sei es auch nur, um den Großmeister deutscher Tonkunst zu sehen und zu bewundern! –
Sehr erfreut bin ich über das Zugeständniß, welches Ihr mir so werther Brief in Bezug auf die Wahl eines Ihrer Oratorien für den mit dieser Sphäre Ihres Wirkens noch nicht vertrauten Wiener Boden zu machen sich entschlossen. Wählen Sie „die vier letzten Dinge“ oder „die letzten Stunden des Heilandes“; dann bin ich überzeugt: Stück für Stück wird – unter der oben vorangestellten Bedingunge Ihres persönlichen Erscheinens – theils mächtig zünden, theils so ganz den Gefühlsmenschen ergreifen, daß der Saal von lautem Jubel oder von inniger Rührung voll sein wird. Bieten Sie aber einem unvorbereiteten Publicum – selbst im Falle Ihres Erscheinens – den tiefsinnigen, aber beziehungsweise schwerer verständlichen „Fall Babylons“, so wird wol der einem Meister Ihrer gewichtvollen Art gezollte Empfangsjubel Sie befriedigen; aber es steht dann in Frage, ob eine nicht gehörig vorgebildete Hörerschaft Ihnen durch die ganze Dauer des für uns Fachleute herrlichen Werkes7 jene gewünschte und erwartete nachhaltige Begeisterung entgegenbringen werde. Wie muß für Spohr der in seinen Mauern einst der herrlichsten Opern eine geschrieben, leider erst so erzogen werden, wie es einst für Mozart, für Beethoven, neuestens für Mendelssohn, Schumann und für den besseren Kern der allerdings sehr problematischen Zukunftsmusik (???)8 erst allmälig und schrittweise herangebildet werden mußte. In dieser Hinsicht mag sich der hier herrschende Geschmack bei den Neuitalienern und Meierbeer theils – wenn er will – bedanken, theils – wie er sollte – rechtfertigen, wenn ja eine Rechtfertigung diesfalls möglich wäre! –
Genehmigen Sie, hochverehrter Herr Doctor, die dieser freimüthigen Sprache angeschlossene Versicherung ausgezeichneter Hochachtung und wärmster Ergebenheit

Ihres treuesten Anhängers
Laurencin
Leopoldstadt Nro 538, 4te Treppe,
2ter Stock, Thüre Nro 53

Wien am 18ten November
1858



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Laurencin, 14.11.1858. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Laurencin an Spohr, 16.03.1859.

[1] Zellner hatte über das Gerücht, Spohr wolle in Wien sein Oratorium Der Fall Babylons aufführen, in seiner eigenen Zeitschrift (vgl. „[Wenn sich das Gerücht bewahrheitet]“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst 4 (1858), S. 175) sowie in einem derzeit verschollenen Brief an Spohr berichtet.

[2] „zu machen“ über der Zeile eingefügt.

[3] Hier gestrichen: „leider“.

[4] „es“ über gestrichenem „sie“ eingefügt.

[5] „Künste“ über der Zeile eingefügt.

[6] „In die Hand [hier gestrichen: nimmt] nehmen,“ über der Zeile eingefügt.

[7] Hier gestrichen: „Ihnen“.

[8] Die Fragezeichen in Klammern so in der Vorlage!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.01.2024).