Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Hochverehrter Herr Doctor!
Kaum ist jene Wunde vernarbt, welche Sie, theurer Meister, vor zwei Jahren betroffen; so melden die Zeitungen eine neue auf Sie bezügliche Trauerkunde.1 Mag Ihnen, verehrter Herr Doctor, die warm und tiefgefühlte Pietät eines Ihnen so ferne wohnenden Kunstfreundes so gleichgiltig und bedeutungslos erscheinen, als sie immerhin wolle; so wissen Sie nun einmal aus meinen beiden in der leider hofnungslos verloren gegebenen Angelegenheit Ihres Wiener Besuches an Sie gerichteten Zeilen, mit welcher Ergebung und begeisterten Hingabe ich von Ihnen und den mit Ihrer Persönlichkeit untrennbar vermälten Meisterwerken hänge. Dies Bewußtsein ermutigt mich zu der herzlich-verehrungsvollen Bitte, mir wenigstens durch eine fremde Hand schriftlich die wahre Sachlage Ihres Befindens eröffnen zu wollen. Wer – gleich mir – ganz in der Kunst lebt und denkt, für den gibt es Meister dieser Sphäre, an die sich ein solcher Kunstjünger wie an einen lieben Vater schließt, daher nicht zufrieden ist, aus ihren Werken beständig zu schöpfen, sondern auch Allem innigen Antheil schenkt, was im Kreise des gewöhnlichen Lebens jene geliebten Patriarchen der Muse trifft. Unlängst wurde durch Hellmesberger und Genossen Ihr wundervolles Streichquartett in D moll herrlich gespielt.2 Mir aber ward hier wie3 bei Allem, was ich ja von Ihrer Dichtung gehört oder aus der Partitur studirt, so seltsam weh und froh zu Mute. Tage lang konnte ich mich von der Partie der wunderzarten Klänge nicht trennen, sang mir bald dies, bald jenes Thema4 dieses erfreigenden Tonbildes vor, oder spielte es, von seltsamen Ahnungen beschlichen. Ich hielt dies Alles für längsterprobte Folge des Eindruckes Spohr’scher Musik auf mich. Nun weiß ich doch,5 was überdies noch dieser seltsame Drang zu bedeuten hatte. Genehmigen Sie also, verehrtester Doctor, die wiederholte recht dringlich gestellte Bitte, mir wissen zu lassen, ob Sie – was ich sehnlich wünsche – schon hergestellt oder noch leidend sind. –
Hochachtungsvoll
Ihr treu und verehrungsvoll
ergebener
F. P. Graf Laurencin
Dr der Philosophie, wohnhaft
Leopoldstadt Nro 538, 4te Treppe,
2ter Stock, Thüre Nro 53.
Wien am 16ten
März 1859
Autor(en): | Laurencin, Ferdinand Peter |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Hellmesberger, Joseph |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Quartette, Vl 1 2 Va Vc, op. 74.3 |
Erwähnte Orte: | Wien |
Erwähnte Institutionen: | |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1859031644 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Laurencin an Spohr, 18.11.1858. Spohrs Antwortbrief vom 21.03.1859 ist derzeit verschollen.
[1] Vgl. „Kassel“, in: Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik (1859), S. 183.
[2] Vgl. L[eopold] A[lexander] Zellner, „Musikalischer Wochenlese“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst 5 (1859), S. 57f., hier S. 58.
[3] „hier wie“ über der Zeile eingefügt.
[4] „Thema“ über einem gestrichenen Wort eingefügt.
[5] Hier gestrichen: „übrigens“.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.01.2024).