Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Reifenstein am 14t September 1840.

Wenn erst hier, mein innigst verehrtester Gönner! ich dazu gelange, Ihnen auf das herzlichste für Ihr liebes Schreiben vom 30t v. M. zu denken, welches die interessante Fräulein Böhlke uns überbrachte: so bitte ich das meiner etwas zerrissenen Lebensweise freundlich zu verzeihen! –
Dieser leider nur auf ein Paar flüchtige Stündchen beschränkte Besuch brachte uns zugleich den Genuß, einiger Ihrer herrlichen Gesangsachen von der sehr schönen Stimme der Fräulein Böhlke zu kommen! –
Die schmerzliche Veranlassung der Veränderung Ihres Sommer-Reise-Plans, welcher auch uns die so herzlich ersehnte Freude, Ihres Besuchs bringen sollte, hörten wir gleich damahls mit tiefer inniger Theilnahme!1
Da C. Müller zu Jessonda unter Ihrer eigenen Direction eingeladen hatte: so schützte auch gegen solche Fehl-Reise nur das Verhältniß, daß es für mich garade vollkommen unmöglich war, so schnell dazwischen heraus zu hören! – ich hörte nun aber in Braunschweig, daß Sie verheißen hätten, nun im künftigen Sommer dieses Meisterwerk ein mahl Selbst in Braunschweig dirigiren zu wollen; u dann nehme ich sich sicherlich zeitiger den Zulauf, dazu auch gen Braunschweig walfahrten zu können! – u wenn nicht schon früher Ihr so hoch erfreulicher Besuch uns ein mahl zu Theil wird, so hofften wir als denn bey solcher Reise sicherlich darauf rechnen zu können!! –
Ihre freundlichen Erwähnungen2 der bevorstehenden Aufführungen sowohl Ihrer historischen Sinfonie im ersten dortigen Winter-Concerte, als des neuen Oratoriums am Charfreytage, vernehme ich höchst dankbar! – ich komm gewis zu beyden, u wenn das Befinden meiner Frau es gerade einigermaßen erlauben will, gewis auch diese. –
Hinsichtlich der ersteren Aufführung bemerke ich, daß ich Vorgestern durch C. Müller benachrichtigt bin, daß am 20t November die Unger nach Braunschweig kommen u 3 Gastrollen geben werde; wonach ich also mein Zeit-Eintheilung zeitig also stellen möge, als dann disponibel zu seyn. – Ist es Ihnen thunlich, jenes erste dortige Concert nicht gerade in solche Epoche zu legen: so wird mir das alleridings insofern sehr erwünscht seyn, als ich die Unger auch gar gern hören mögte. – Besonders von Neapel aus erhielt sie in den französischen Zeitungen vor einiger Zeit großes Lob. –
Da dieses Mahl Thier-Schau, Pferde-Messe, - u Wettrennen in Braunschweig sich gleich einander reiheten: so war ich ganze 10 Tage dort! – u hörte unter andern die neue Oper von Conradin Kreutzer, „die beyden Figaro,“ – welche allda die erste Aufführung unter Kreutzer’s eigener Dirigirung erhielt3 zwey Mahl; indem sie das erste Mahl ein so gefülltes Haus einkehrte, u so gefiel, daß sie gleich andern Abends, statt schon gemachter anderer Ankündigung, noch ein Mahl gegeben würde. Es sind besonders recht sehr schöne Ensemble Sachen darin; die Oper verliert aber durch die unerhörte Länge ihrer nur zwey Acte; als Folge all’ zu weit ausgestalteter Solo-Parthien; die gerade noch dazu ungenügend besetzt waren, weil die Rolle, welche Kreutzer besonders für Pöck bestimmt hatte, unvermeidlich H. Fischer übertragen werden mußten4, u.s.w. Die Urtheile darüber waren über die Maaßen verschieden! ich hörte geistreiche Damen versichern, daß sie dabey einzuschlafen riskirten, – u andere der besten Gesellschaft, sie über die Hugenotten stellen!! u die Wahrheit lag wohl in der Mitte, wie häufig! – Kreutzer selbst räumte nach der ersten Aufführung gleich ein, daß von den langweiligen Solo-Parthien eines obendrein sehr langweilich arrangirten Sujets vieles nothwendig gestrichen werden müße; was er nur nicht gleich in Braunschweig thun dürfe, um die Inhaber der Rollen nicht zu beleidigen. – [Kreutzers u seiner sehr liebenswürdigen Familie nähere Bekanntschaft interessirte mich sehr; u deren unmittelbare Tisch-Nachbarschaft im Deutschen-Hause ließ die 10 Tage hindurch mich nicht bereuen solche gleich bey meiner Ankunft gesucht zu haben. –]5
In jedem Falle fand ich persönlich ohne allen Vergleich mehr Genuß darin, als in der am Haupt-Renntag-Abend mit großem Pomp italienisch wieder aufgeführten Lucrezia Borgia von Meister Donizetti!! – indem die verschwenderische Verwendung riesiger Orchester zu dergl. Guitarren-Begleitung auch des schönsten Gesangs mir jederzeit unbeherrschbar wahrhaft Bauchgrimmen macht! – Es gehört Contenance dazu, das Entzücken der überfüllten Logen rechts u links bey solchen E[???]is zu ertragen! – mag auch der zunächst dazu verführende Gesang einer Fischer-Achten, – u eines Schmetzer an sich so entzückend seyn als er will! – Dagegen glaube ich mich nicht zu irren, daß Pöcks Gesang sehr verliert; – wogegen der Tenorist Bussmeyer [???] im Vorschreiten begriffen ist. –
Die auch wieder gehörten Hugenotten, – an dem Haupt-Meß-Sonntage, – waren bey weitem das genußreichste u interessanteste dieses 10tägigen Repertoirs, [da die Fischer unwohl war: so übernahm Kreutzers gar liebenswürdige Tochter die Valentine!! – u wenn gleich sie die Fischer natürlich nicht erreichte: so war es doch schon sehr viel, an demselben Orte. wo man jene gewohnt ist, also damit durchzukommen! – Im Stande(???) der Haltung, der Königin gegenüber, übertraf sie selbst die Fischer; u documentirte eine sehr feine Erziehung in der Haltung.]6, auch habe ich mich von neuem überzeugt, daß „der Schwur“ oder „die Falschmünzer“ – schon hinsichtlich des überaus anziehenden Sujets, gewis mit zu den gelungensten Opern Aubert’s gehören; – u sollte diese Oper noch jetzt nicht auf dem dortigen Repertoir seyn: so glaube ich dreist sie Ihnen dafür anempfehlen zu dürfen. Sie gefällt gewis; – u das ist denn wenigstens eine Cassen-Berücksichtigung! –
Manches Ihrer Aachener abermahlichen vel quasi Triumphzug’s-Reise7 hörte ich schon von den trefflichen Müllern, was Ihnen Freude gemacht, u angenehme Erinnerungen auch an diese Reise begründet haben muß! – u was daher in Müllers Erzählung mir wahren Kitzel mit machte! – Recht sehr freue ich mich darauf, weiteres von Ihnen über diese interessante Reise u denn so von der nach Lübeck u Hamburg zu hören; wo ich Jessonda gar gern gehört haben mögte!! –
Die Nachricht, wie auf der Trave nur Ihre Schwimmkunst Ihr theuerstes, – Ihre so liebenswürdige u geistreiche Frau Gemahlin zu erhalten vermogte8, überzog uns mitten in der unendlichen Freude, daß es so abgegangen, doch mit Eises-Ernst!! –
Je zeitiger vorher Sie mir Nachricht von dem Tage des ersten Concertes u seiner Probe geben können, desto gesichterter ist meine Wallfahrt dazu?! – Ihrer theuren Frau Gemahlin meine ehrerbiethigsten Huldigungen! – Innigst
Ihr wärmster Verehrer
CFLueder.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 30.08.1840. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 07.11.1840.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] Hier gestrichen: „so wohl“.

[3] „erhielt“ über der Zeile eingefügt.

[4] Die Besetzung mit Fischer anstelle von Pöck kritisierte Lueder auch bei Giacomo Meyerbeers Les Hugenots (vgl. Lueder an Spohr, 26.04.1840).

[5] Ausdruck in Klammern am linken Seitenrand eingefügt.

[6] Ausdruck in Klammern am linken Seitenrand eingefügt.

[7] Beim Niederrheinischen Musikfest.

[8] „vermogte“ über der Zeile eingefügt. – Zum Bootsunglück auf der Trave vgl. Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 251.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.01.2021).