Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Scortleben bei Wessenfels den 4.
April 1859.

Hochverehrter Herr General-Musikdirector!

Wenn Ihr Geburtstag, Herr Doctor, für mich und meine Familie seit Jahren ein Fest- u. Freudentag war, wo auch meine Kinder Ihr liebes Bild stets mit Immergrün schmückten, so hatte im vorigen Jahre das Schicksal mich gerade zu jener Zeit so schwer betroffen, und in den Tod mir mein Weib entrissen u. auch ein Sohn von mir im Sterben lag. Diese schwere Heimsuchung war der Grund, daß ich Ihnen meine Glückwünsche im vorigen Jahre nicht brachte. Aber nach des Unglücks trüben Tagen erhebe ich nun dankend zu Gott die Hände, daß er auch Sie von jenem schweren Anfall errettet hat, wo von uns die Zeitungen damals die Trauerbotschaft brachten; und bitte Gott an der Schwelle Ihres neuen Lebenjahrs, er möge Ihnen noch ferner seine Gnade verleihen, auf daß Sie noch recht lange den Ihrigen u. uns allen Ihren vielen Verehrern erhalten werden. Ja, ich sage mit Rechte Ihren vielen Verehrern auch in hiesiger Gegend. Daß es so und nicht anders ist, haben Sie ja, Herr General-Musikdirector, bei Ihrer Anwesenheit im Gewandhaus-Concert zu Leipzig im vorigen Jahre so reichtlich erfahren, wovon ein Freund erzählte, welcher dem Concerte beigewohnt hatte. Wie sehr beklage ich, daß ich in jenen Jubel nicht einstimme konnte. Hätte ich nur Kunde von Ihrer Anwesenheit in Leipzig gehabt, ich wäre gleic dahin geeilgt, ja weil ich ganz in der Nähe des Bahnshofes Grosskorbetha wohne, woselbst die Thüringer-Eisenbahn in die Leipziger-Bahn einmündet. Ich fahre daher oft nach Leipzig ins Concert u. ins Theater. Am 10. März hörte ich im 19. Abonnement-Concert des Gewandhauses die 8. Sinfonie F. Dur von Beethoven, den Sänger Stockhausen aus Paris u. den Clavierspieler Dupont aus Brüssel, und erquickte mir wieder an der meisterhaften Aufführung.1 Es wäre aber in Wahrheit sehr zu wünschen, daß die alten unästhetischen Typen(???) jener berühmten Gewandhaus-Concerte endlich zu Grabe getragen werden möchten; ich meine das unendliche Präludiren, Probiren u. Stimmen aller Instrumente vor dem Beginn des Concerts. Diese Uebelstände kommen in Halle nicht vor, wo unter dem Musikdirector John sich ein gutes Orchester gebildet hat. Morgen als den Tag Ihres Geburtstages wird in Halle ein großes Concert gegeben, welches ich besuchen werde. Ich erlaube mir beifolgende Annonce Ihnen mitzutheilen. Wie ich höre wird Ihre große Sinfonie in F. „Die Weihe der Töne“ und die Jessonda Ouverture gegeben werden, worauf ich mich sehr freue. Das von Ihnen componirte Septett für Pianoforte, Violine, Violoncello, Flöte, Clarinette, Horn u. Fagott habe ich mir einmal von der Leihanstalt des H. Klemm in Leipzig kommen lassen, leider konnte ich nicht dasselbe zur Aufführung bringen, weil die Besetzung fehlte. Wäre es als Trio oder Quartett arrangirt, dann könnte ich es bei mir zur Aufführung bringen, da ich Cello u. Geige selbst besitze. Ihre Trios spiele ich mir meinen Freunden sehr oft. Meine Lieblinge sind das 2.2 u. 4.3 Trio. - Auch bei dem Jubelfeste der Universität Jena, wo ich auch als dankbarer Schüler der alma mater im vorigen Jahre anwesend war, wurden in der großen Feshalle auch mehrere Compositionen von Ihnen4 an den verschiedenen Tagen des Festes von dem stark besetzten Orchester recht gut aufgeführt. Professor Scheidler u. ich haben auch Ihnen dort freundlich gedacht. Leider mußte unsere Unterhaltung seines schweren Gehörs wegen schriftlich geführt werden. Für mich sind jene Tage unvergeßlich, indem ich so glücklich war die meisten meiner Universitäts- u Musikfreunde dort wieder zu finden. Mit großer Freude erinnerten sie sich jener schönen Zeit, wo sie unter meiner Direction so wol in den academischen Winterconcerten so wie in dem Gesangverein bei Hand die Jessonda, Zemire u. Pietro von Abano aufgeführt hatten. In Erinnerung jener goldenen Jugendzeit erhoben wir begeistert für Sie, unseren geliebeten großen Meister, unsere berlenden Gläser und stießen als die alten treuen Burschen Sie hoch leben lassend im harmonischen Gesang so recht von Grund des Herzens brüderlich an. Dann sangen wir aus jener guten alten Zeit Ihr herrliches Lied, uns allen noch recht gut in Gedächtnis: „Dem Schnee, dem Regen5 u.s.w.“ Wahrlich das Herz war uns nicht alt geworden, sondern frisch schlug es wieder in Erinnerung jener Blüthenzeit, wo wir vor 30 Jahren in jugendlicher Kraft6 durch die edle Musica als gleichgesinnte Seelen uns zusammen gefunden hatten, u. uns auch an ihren classischen Werken begeisterten u. bildeten. Als einen Beweis meiner innigen Verehrung und Dankbarkeit gegen Sie, hochgefeierter Herr, wage ich schüchtern u. in Demuth Ihnen zu Ihrem Geburtstage beifolgendes Vater Unser u. Einsetzungsworte mit Begleitung der Orgel ganz ergebenst zu überreichen. Es war ja stets ein Lieblingsgedanke von mir, den ich auch bei meiner Anwesenheit in Cassel gegen Sie auszusprechen wagte, von Ihner Meister-Hand das Vater unser nebst Einsetzungsworte für die Kirche componirt zu haben. Durch diesen meinen schwachen Versuch glaubte ich ein Mittel gefunden zu haben, meine Bitte gegen Sie erneuern zu dürfen u. vielleicht auch noch erfüllt zu sehen. Geruhen Sie diese kleine Gabe eines Laien in der Composition in dem Sinne aufzunehmen, in dem sie gegeben ward. Es würde mich sehr glücklich machen, wenn Sie so gütig wären u. meine freundliche Bitte erfüllten.
Indem ich Ihnen aus der Ferne meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrem Geburtstage mehrmals zurufe, habe ich die Ehre mich nennen zu dürfen

Ew Hochwohlgeboren
ergebenster dankbarer
Heinrich Weber Pfarrer.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Weber an Spohr, 05.04.1857. Spohr beantwortete diesen Brief am 17.04.1859.

[1] Vgl. Hoplit [Pseud. f. Richard Pohl], „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 50 (1859), S. 151f., hier S. 151; „Neunzehntes Abonnementconcert in Leipzig im Saale des Gewandhauses. Donnerstag en 10. März 1859“, in: Signale für die musikalische Welt 17 (1859), S. 150.

[2] Op. 123.

[3] Op. 133.

[4] „von Ihnen“ über der Zeile eingefügt.

[5] Beginn von „Rastlose Liebe“ aus den Sechs Gesängen für vier Männerstimmen op. 44.

[6] Hier gestrichen: „uns“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.12.2017).