Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 52ff.

Leipzig, den 4. April 1859.

Lieber Herr Kapellmeister.

Mögten Sie Ihren lieben Geburtstag, an welchem das Gegenwärtige wohl in Ihre Hände kommt, wieder recht wohl und recht vergnügt zubringen und noch viele solche, das ist mein und unser Aller herzlicher Wunsch!
Es ist mir vergönnt gewesen manch schöne Zeit in Ihrer Nähe zu verleben, erst ein Jahr in Gotha, ein halbes Jahr in Wien, und zwanzig Jahre in Cassel, aber vor alle dieser Zeit war meine Liebe zu Ihnen schon so befestigt durch Ihre Musik, durch Compositionen, deren Sie sich jetzt vielleicht wenig erinnern, denn sie fallen in sehr frühe Zeit: Ihr erstes Liederheft und eine Orchesterouvertüre in C moll; diese ließen wir, Franz1 und ich, von einem Caffeegartenorchester aufführen und sie ging mir so ans Herz, daß ich tagelang weich und träumerisch blieb und in meinen damaligen architektonischen Arbeiten nichts thun konnte. Die Musik hatte mich sympathisch völlig in Beschlag genommen, - ein schöner Sommertag, im 18ten Jahre, kein kritisches Gesperre, kein Beobachten wie etwas gemacht ist, wie es später dem graden Eingang zum Gefühl sich in den Weg staut — der Eindruck ist mir noch wie heut. Diese Ouvertüre ist eigentlich Ursach, daß ich Musiker geworden bin, die Architektur mit der Musik vertauschte. Hermstedt kam dann nach Dresden, der Ihre herrlichen Clarinettcompositionen in jener Zeit wunderschön spielte, er wurde in unserm Hause bekannt, war viel bei uns und drang nun darauf, daß ich zu Ihnen nach Gotha geschickt wurde. Ich hatte einige Generalbaßkenntniß, auch einige Zeit schon Compositionsunterricht gehabt bei Morlacchi, der immer ganz entsetzlich unzufrieden und verdrießlich beim Unterricht war, wie man's eben ist wenn man etwas lehren will was man selbst nicht recht versteht.
Ich besitze noch Compositionsversuche, die ich unter seiner Leitung geschrieben habe, sie sind harmonisch uncorrect und von Inhalt weder italienisch noch deutsch. Die ersten Arbeiten bei Ihnen, die ich auch noch habe, sind ganz anders, es ist eine geregelte Harmonie darin und sie haben eine Form. Das habe ich nicht gemacht: Sie haben es gethan ; aber es war bei mir doch ein Sinn da das Richtige aufzufassen, und dieses einmal gefaßt, hätte ich auch bei Morlacchi nicht wieder unrein und gestaltlos können schreiben lernen. Manche kleinere Stücke, Lieder und anderes, die ich noch in Gotha für mich allein gemacht habe, sind. wenn auch sonst nichts daran ist, rein in der Harmonie und von natürlichem Fortgang. Was Morlacchi mit vielem unwilligen Auszanken nicht zu Wege gebracht, lernte ich bei Ihnen, bei wenigen guten Worten und nach dem guten Beispiel am ersten Stück, das Sie mich machen ließen. — Mit der Geige ward wohl zu spät angefangen, denn was ich nach Gotha mitbrachte war blos dilettantisches. Ich bin längere Zeit recht fleißig gewesen, am besten habe ich gespielt, wo Niemand da war mich zu hören, in Pultava wo ich, um nur mit irgend Jemand musiciren zu können, mit einem Beamten2 der fürstlichen Canzlei im Hause wo ich war, der fertig Geige spielte, Duette spielen wollte und da wir keine hatten, versuchte Ihre zwei Duette (das zweite Heft) aufzuschreiben; es wollte aber, so gut ich sie kannte, doch nicht gelingen, worauf ich selbst die beiden ersten Violinduetten schrieb. Daß ich diese damals gut spielen konnte, ist mir selbst noch ein Beweis meiner Fertigkeit in jener Zeit, denn sie sind enorm schwer. Es bedarf aber, eine technische Fertigkeit die man nicht in ganz jungen Iahren erwirbt nur zu erhalten, gar zu unausgesetzter Uebung und zu vielen Zeitaufwandes, den man später nicht gewähren kann und mag; und so ist die Geige liegen geblieben, und ist die viele Zeit zu bedauern die man darauf gewendet hat. Ich wollte ich hätte den zehnten Theil davon zum Clavierspiel verwendet, aber da hat es immer an Ausdauer gefehlt. Ich weiß noch, da ich in Gotha bei einem Herrn Pitscher oder ähnlichen Namens, der ein schlechter Geiger war, Clavierunterricht hatte, wo ich Mozart'sche Sonaten mit Violinbegleitung lernen sollte, daß ich dann immer die Geige nahm und ihn die Clavierpartie spielen ließ. Dadurch kam ich freilich im Clavierspiel auch nicht weiter.
Ich hätte eigentlich über unsere nun abgelaufenen Gewandhausconcerte und manches Neue und Interessante, was sie gebracht haben, schreiben können und sollen und bin in alte Zeiten gekommen. Jenes will ich aber nächstens nachholen. Besonders hätte ich von Schumann's Musik zu Manfred, die zweimal aufgeführt wurde und recht erfreut hat, sprechen können.3 Charfreitag ist wieder die Matthäuspassion. Leben Sie wohl und seien wie die Ihrigen von mir und meiner Frau aufs herzlichste gegrüßt. Ihr in unwandelbarer Liebe

ergebener M. Hauptmann.



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, Dezember 1858. Mit diesem Brief endet dieser Korrespondenz.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] Vgl. Fr.B., „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 50 (1859), S. 161f.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.03.2017).