Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeehrter Herr Doctor!

Es wäre schwer, Ihnen den freudigen und wahrlich herzerleichternden Eindruck Ihrer geehrte Zeilen vom 21ten d. M. zu schildern. Sie müßten erst die Wärme und Tiefe meiner Ihnen geweihten Ergebung kennen, um eine annähernde Vorstellung der von großer Bangigkeit um Sie mich so trostreich erlösenden Wirkung Ihrer geehrten Zuschrift gewinnen zu können. Die Zeitungen meldeten nämlich nichts Geringeres, als einen neuen Sturz, den Sie gemacht haben sollten, und als Folge dessen einen wiederholten Armbruch, der über Sie, hochverehrter Meister, verhängt worden wäre. Obwol gegen Zeitungsnachrichten seit Jahren schon höchst starrgläubig oder besser gesagt – ungläubig, glaubte ich dieser Trauerkunde dennoch mit schwerem Herzen, da ich sie in einem Blatte gelesen1, das sonst – im Vergleiche zu anderen Flugschriften – ziemlich vorsichtig mit seinen Veröffentlichungen zu Werke geht. Ich hatte keine Ruhe mehr, bis ich den Entschluß gefaßt, selbst an Sie zu schreiben, und Sie im Drange meiner Theilnahme um die wahre Sachlage zu befragen. Ich befürchtete, durch eine fremde Hand der trüben Wahrheit inne zu werden. Stellen Sie sich nun meine Stimmung vor, als ich Ihre Schriftzüge erkannt, und vergegenwärtigen Sie sich den noch um Vieles erhöhten Freudengrund meines Seelenzustandes, als ich las, und mich nicht satt lesen konnten: es sei Ihnen seit dem früheren Trauereignisse nichts mehr begegnet. Lob der ewigen Vorsehung hiefür, und tiefgefühlten Dank Ihnen, tiefgeehrter Hr Doctor, daß Sie einen Ihrer treuesten und trotz aller Wandlungen des Kunstlebens unbeugsamster Anhänger einer so quälenden Sorge um Ihr Wol auf eine so freudenvoll nachwirkende Art ledig gemacht haben. Daß dieser verhängnißvolle Armbruch Ihrem zaubervollen Geigenspiele Schranken gesetzt, kann freilich kaum Jemand inniger bedauern, als ich. Denn ich habe dereinst ganz bescheiden in einer Stubenecke meines verewigten Freundes Ludwig Kleinwächter sitzend, jedem Ton Ihres tiefbeseelten Viersaiters(???) so bewundernd gelauscht, daß – ließe sich eine Tonsprache, wie Sie selbe sowol schaffend als Geschaffenes darstellend geführt, in Worte übersetzen, ich noch heute, als nach 20 Jahren, Ihnen wahre Hymnen meines tiefergriffenen Herzens ob dieser Klänge schreiben könnte.
Um der Schlaflosigkeit, welche Sie, hochgeehrter Meister, fortan quält, lassen Sie sich nicht bange werden! Ein Zustand solcher Art kommt und geht, man weiß oft selbst nicht wie. Lassen Sie nun die schönere Zeit und die vielleicht und hoffentlich angenehmen Zerstreuungen kommen, welche Ihnen die Ausflüge, von denen Sie mir zu schreiben so gütig sind, so wie das Gelingen der dort in Aussicht gestellten Aufführungen Ihrer herrlichen Werke unzweifelhaft bereiten werden; und – es steht die Wette – Sie werden Ihre Körpernatur binnen kurzem wieder erkräftigt und auch durch den jetzt2 schwer vermißten Schlummer neu belebt erblicken. Und hierüber wird sich dann mit Ihnen der ganze Chor Ihrer Getreuen, am herzlichsten und kindlichsten aber freuen

Ihr hochachtungsvoll und tiefergebener
Laurencin
Leopoldstadt Nro 538, 4te Treppe,
2ter Stock, Thüre Nro 53.

Wien am 28ten
März 1859

Autor(en): Laurencin, Ferdinand Peter
Adressat(en): Spohr, Louis
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Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1859032844

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Laurencin, 21.03.1859.

[1] Vgl. „Kassel“, in: Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik (1859), S. 183.

[2] „jetzt“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.01.2024).