Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 2° Ms. mus. 1500[Sp. 75,68

Sr. Wohlgeb.
Herrn Musikdirektor Böhme
in
Dordrecht
(Holland.)

franco.1


Cassel den 10ten Februar 1859.

Lieber Herr Böhme, Geehrter Freund,

Ihren liebevollen Brief vom 9 Januar habe ich damals nicht beantwortet 1.) weil ich nichts Besseres über mein Befinden zu melden hatte, und 2.)2 es mir zur Regel habe machen müssen, nur die Briefe zu beantworten, die einer Antwort durchaus bedürfen, denn immer noch werde ich aus allen Gegenden Deutschlands mit Briefen bombardirt, wie in der Zeit, wie ich noch in meiner vollen künstlerischen Thätigkeit war. Diese hat aber jetzt ganz aufhören müssen; weshalb ich auch keinen Ihrer wohlgemeinten Vorschläge zur Beschäftigung habe befolgen können, denn wenn ich überhaupt noch etwas arbeiten könnte, so würde ich am liebsten komponiren und der gräulichen Richtung der Zukunftsmusiker nach Kräften entgegen zu arbeiten. So ist aber mein ganzes Thun auf Lekture und Musikhören beschränkt. Ich werde deshalb auch, so wie der Winter nur erst überstanden ist, auch wieder kleine Reisen machen, um gute Musik zu hören.
In meinem Befinden hat es sich in so weit gebessert, daß ich doch seit etwa 4 Wochen die ganze Nacht im Bette aushalte und nicht wie früher außer dem Bett in meinem Zimmer campire. Wenn erst die Nächte kürzer werden, und die Luft wärmer wird, soll es, hoffe ich, noch besser gehen.
Für unsere Winterconcerte ist Kapellmeister Reis sehr thätig. Bey seiner ausgebreiteten Bekanntschaft3 mit den Virtuosengrößen der Jetztzeit ist es ihm gelungen fast zu jedem Concert einen derseben hieher zu ziehen und so waren die Concerte sehr zahlreich besucht und er wußte die fremden Virtuosen bey den brillanten Einnahmen durch Vergütung der Reisekosten bey allem Geiz des Kurfürsten doch bisher sämtlich zufrieden zu stellen. Im nächsten Concerte wird der ber. Claviervirtuose Dreischock spielen. Im vorigen spielte eine sehr ausgezeichnete Harfenvirtuosin Dem. Mosner4. Sie ist von hier nach Holland abgereiset, wo sie für die meisten Städte Engagement hat. Sie wird auch in Ihrer Nähe in Utrecht spielen und da sie ausgezeichnet ist, bey weitem sicherer als meine Nichte5, so sollten Sie sie doch auch zu sich einladen wenn die Zeit zu einem Concert günstig ist, Sie würden sich und Ihren Musikfreunden dadurch einen großen Kunstgenuß bereiten!
Nun leben Sie wohl und nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundliche Theilnahme an meinen Leiden und Kümmernissen. Darunter gehört allerdings auch der frühe Tod meines jüngsten Bruders6 und die Verzweiflung seiner Frau7, Tochter8 und Verlobten9 derselben, auch ein Opfer des leidigen Nervenfiebers woran ich auch meine Therese verlor.
Mit herzlicher Freundschaft ganz der Ihrige

Louis Spohr.


Da mein Mann, der eben Besuch10 bekam, mir seinen Brief zum Zumachen übergiebt, so lockt mich der noch vorhandene leere Raum, in aller Eile noch einige Worte einerseits hinzuzufügen, da ich bei Ihnen so warme Anhänglichkeit und Theilnahme an meinen geliebten Spohr voraussetzen darf, daß Sie gern noch einiges Nähere über sein Ergehen erfahren. Daß seine Stimmung jetzt wieder einen viel heiterere, ja ganz dieselbe ist, wie Sie ihn zuletzt sehen, werden Sie theilweise aus seinem Schreiben schon errathen, und ich kann es mit großer Freude bestätigen. Es war wirklich eine trostlose Zeit für ihn und für mich, wie er so Monate lang Nachts nicht schlafen konnte, und dann durch nichts zu bewegen war, wenigstens ruhig im Bette zu bleiben, worauf der Arzt doch so dringend bestand. Während jener Zeit war er dann auch am Tage meist von trüben, melancholischen Gedanken erfüllt, [er] glaubte sich oft überflüssig in der Welt, und wünschte, sein Lebensende herbei! Wie das auch mich so unglücklich machte, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Denn wenn er auch noch so liebevoll und anerkennend sich oft gegen mich aussprach, so fühlte ich doch auf’s Schmerzlichste, daß ich eben so wenig wie irgend Jemand anders, im Stande war, ihn eigentlich zu erheitern. […]11 ihn so drückende Altersgefühl vergessen zu machen. Als de[… ] [de]n Grad erreicht hatte, entschloss sich endlich am 14ten Januar [der Arzt12 ei]n paar tüchtige Opium-Pulver zu geben, die zwar nicht entschieden [???]13, wie er glaubte, wirkte, aber doch beruhigend genug, um es ihm möglich zu machen, im Bette zu bleiben bis am Morgen, wodurch dann gleich nach 2 Tagen (oder Nächten) seine gute Natur wieder14 in die richtige Bahn gelenkt war, so daß er seitdem keines solches, vom Arzt nur sehr ungern bewilligten Pulver, bedurft hat, sondern die Nächte, abwechselnd schlafend und wachend, ganz erträglich im Bette zubringt, und am Tage ganz munter ist,15 Allem was sich von guter Musik bietet, wendet er noch das größte Interesse zu, und besucht sogar die Proben der Concerte, und bespricht sich dann gern über alles das mit seinem kleinen eifrigen Freunde Reiß, der sein Möglichstes thut, die Concerte recht zu heben. Im vorletzten hatte er die Harod-Symphonie von Berlioz16 mit unendlicher Mühe einstudirt (die jedoch weder bei uns, noch beim Publikum Anklang fand), im letzten „die Weihe der Töne“ v. Spohr, an deren trefflicher Aufführung wir Alle große Freude hatten. – Zum Schlusse nur noch die freundlichsten Grüße von meiner Schwester, und die Bitte, mein flüchtiges Geschreibsel zu entschuldigen! Ihre ergebene
Mar. Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Böhme an Spohr, 09.01.1859 und 06.02.1859. Böhme beantwortete diesen Brief am 03.04.1859.

[1] Auf dem Adressfeld befinden sich noch die Poststempel: „FRANCO“, „CASSEL / 10 / 2 / 1859 / 1 2“ und „DORDRECHT / 11 / 2 / 1859“.

[2] „2.)“ über der Zeile eingefügt.

[3] „Bekanntschaft“ über der Zeile eingefügt.

[4] Marie Mösner, später verheiratete Spaur.

[5] Rosalie Spohr.

[6] Carl Spohr.

[7] Ina Spohr.

[8] Hermine Spohr.

[9] Vermutlich Hermine Spohrs späterer Ehemann (ab 1863) Johann Friedrich Wilhelm Reinking.

[10] Carl Reiss, Alexander Dreyschock und (Johann Wilhelm?) Ritmüller (Marianne Spohr, Tagebucheintrag, 10.02.1859).

[11] Textverlust durch Siegelausriss.

[12] Adolph Harnier (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 14.01.1859).

[13] Obere Texthälfte durch Siegelausriss verloren.

[14] Hier zwei Buchstaben gestrichen („da“?).

[15] Hier gestrichen: „und“; der vorhergenede Punkt ist aus einem Komma verbessert.

[16] „von Berlioz“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.06.2020).