Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 2° Ms. mus. 1500[Sp. 75,67

Sr. Wohlgeb.
Herrn Musikdrektor F. Böhme
in
Dordrecht
(Holland.)
 
franco.
 
Hierbei ein Paket
Musikalien in schwarzem
Wachstuch, mit gleicher
Adresse.
 
 
Cassel am Sylvester-Tag den 31sten Dec.
1858.
 
Geliebter Freund,
 
Für Ihre freundlichen Glückwünsche zum neuen Jahr sage ich Ihnen den herzlichsten Dank!
Leider trete ich es in höchst melancholischer Stimmung an, denn mich ängstigen die nächsten beyden härtesten Wintermonathe so, daß ichnoch gar nicht weiß, wie ich sie überleben soll. Denn seit einiger Zeit kann ich des Nachts gar nicht mehr schlafen und muß weil ich nicht im Bette zubringen kann, von spätestens1 4 Uhr an, unten in meinem Zimmer, im Lehnstuhl sitzend, bis zum Anbruch des Tages zubringen. Wie ich dieß noch bis zum Anbruch des Frühlings aushalten soll, begreif ich nicht.
Dazu kommt noch, daß ich2 die Hoffnung, die ich im Anfang der glücklichen Kur meines Armbruchs gefaßt hatte, ich würde in der Folge wieder Violine spielen können, nun habe ganz aufgeben müssen, denn es ist eine Gefühllosigkeit im Arm zurückgeblieben, die mir kaum erlaubt, bey unsern Quartettparthien, die jezt in der alten Weise wieder begonnen haben, die Viola-Parthie zu übernehmen. Was mir das für Kummer macht, den Leuten meine eigenen Quartetten nicht mehr vortragen zu können, davon können Sie sich keine Vorstellung machen! Alle Freude an dieser Musikgattung ist hin! So haben sich auch seit dem Ruhestand in den mich der Kurfürst versetzt hat, durch die Unthätigkeit in der ich jetzt lebe, alle musikalischen Ideen verloren, so daß ich mich von allen Ehrenämtern habe zurüziehen müssen! Ich habe das Preisrichteramt so wohl bey der Tonhalle in Mannheim, wie auch3 bey der Gesellschaft zur Beförderung der Tonkunst in Rotterdam aufgegeben!
Um nicht ganz unnütz in der Welt zu seyn, habe ich seit kurzem angefangen, einem jungen unbemittelten Mädchen4, die sich zur Clavierlehrerin ausbilden mögte, unentgeldlichen Unterricht im Clavierspielen zu geben!
Meine ganze Hoffnung ist nun auf das Frühjahr und kleine Reisen mit meiner Frau gesetzt, dazu ist aber nöthig daß ich erst die beyden schrecklichen Monathe Januar und Februar glücklich überstehe!
Vor der Hand schicke ich Ihnen Ihre 9te Ouverture, die Sie an H. Lubeck im Haag senden wollen. Daß ich die 8te hier nicht habe zur Aufführung bringen können, finden Sie in der Stellung, in der ich jetzt bin, wohl eben so erklärlich, als daß ich an Ihrem zu langen Quartett nichts habe kürzem können. Beyde Sachen, die Sie jetzt nicht so nothwendig, behalt ich noch zurück, weil ich hoffe, ein günstiges Geschick führt Sie noch einmal hieher wo ich Ihnen dann alle Ihre Kompositionen, die sich noch hier befinden, einhändigen werde.
Bis dahin wünsche ich Ihnen recht glücklich zu leben und vergnügter als ich es leider vermag!
Unter Grüßen von5 meiner Frau und Schwägerin stets
 
Ihr wahrer Freund
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Böhme an Spohr, 26.12.1858. Böhme beantwortete diesen Brief am 09.01.1859.
 
[1] Hier gestrichen: „um“.
 
[2] „ich“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] „wie auch“ über gestrichenem „so wohl“(?) eingefügt.
 
[4] Noch nicht ermittelt.
 
[5] „von“ über der Zeile eingefügt.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.12.2018).