Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 47-50

Leipzig, den 3. Nov. 1858.

Lieber Herr Kapellmeister.

Sie sind nun lange wieder und hoffentlich wohlbehalten in Cassel und in Ihrer Behausung eingezogen und denken kaum mehr an Leipzig und an das Wenige, was es Ihnen hat bieten können. Wir aber denken noch viel an Ihre Gegenwart und bedauern nur daß sie so kurz war. So manche Leute hätten Sie noch gerne bei sich gesehn wenn Sie einige Tage hätten zugeben können, würden auch gerne etwas Musikalisches veranstaltet haben: Moscheles, Voigts, Freges; letztere kamen kurz nach Ihrer Abreise nach Leipzig zurück. Man hofft, daß Sie Ihren Besuch wiederholen und einmal etwas längere Zeit hier verweilen werden, wo sich dann etwas einrichten und verschiedenes in einander fügen läßt, was in dem kurzen Verlauf von drei Tagen nur gegeneinander stößt. Wir haben seit Ihrer Abreise schon manche Concertaufführungen wieder gehabt, Gewandhaus- und andere. Am vorigen Sonnabend ein Kirchenconcert zum Besten des Gustav-Adolf-Frauenvereins.1 Ein Verein der, wenn die Männer den bedrängten Gemeinden Kirchen bauen, mehr für häusliche Bedürfnisse unterstützend sorgt. In jenem Concert sang Frau Sophie Förster aus Dresden, die sich durch Reisen, namentlich in Holland sehr guten Ruf erworben hat. In der Kirche klang ihre Stimme sehr schön, die Frau hat sich's auch angelegen sein lassen etwas zu lernen. Ein Orgelvirtuos F.2 aus Dresden war für uns weniger erbaulich. Er wüthete bedeutend und ist in Takt und verständlicher Harmonie weit in die Zukunft hinaus. Wenn ein taktloses Spiel schon auf dem Clavier unerträglich ist (im Orchester geht's glücklicher Weise nicht anders als im Takt), so wird's auf der Orgel ganz unvernünftig und abscheulich. Der Clavierspieler kann noch immer durch den Accent etwas Taktloses einigermaßen verständlich erhalten, bei der Orgel fällt dieses weg und es hört mit dem Takt gleich alle Musik vollständig auf. Eine Motette, die ich in Alexanderbad gemacht hatte, zur Gustav-Adolf Versammlung im August, wurde in diesem Concert auf Verlangen wiederholt. Dieses Stück spricht die Leute so allgemein an, daß man an Goethe's Ausspruch denken muß : „Wunderthätige Bilder sind selten gute Gemälde.“3 Ich habe über entschieden bessere Sachen nicht den hundertsten Theil der Lobsprüche erhalten, wie über diese Motette, die zu den Psalmworten „Wie lieblich sind deine Wohnungen" mit zwei Solosopranen in Terzen anfängt, was die Leute von vornherein in gute Stimmung versetzt. —
Gestern war eine Aufführung des Elias in der Euterpe, der zweiten Concertgesellschaft von Leipzig.4 Ich war nicht zugegen. Morgen ist im Gewandhaus zu Mendelssohn's Todestag die Eroica von Beethoven und Mendelssohn's Musik zur Athalia mit verbindender Declamation von E. Devrient.5 Ich habe diese Musik mehremal mit Vergnügen gehört, sie schließt sich der Dichtung besser an als es die Musik unserer Zeit einem Stück von drittehalbtausend Jahren, wie Antigone und Oedip, kann, die immer an sich oder an der Dichtung zu kurz kommen muß. Mendelssohn würde wohl auch auf alle diese Bearbeitungen nicht gekommen sein, wenn es nicht par ordre de Mufti verlangt worden wär', auch die Sommernachtstraum-Musik, die Ouvertüre ausgenommen, ist auf Königs Wunsch d.h. Befehl gemacht, dann freilich mit so viel Liebe für die Arbeit und so reizend, daß wir nur über des Königs Befehl uns freuen können. Wie zu jeder Bewegung ein Anstoß gehört, auch wenn das Ding sich zu bewegen schon große Lust hat, so will ich die Locomotive, die vorn fehlte und die ich jetzt als schiebend hinten ansetze, nicht verleugnen, wie ich sie doch nicht verbergen kann. Das ist aber ein massiver schlechter Vergleich. Ich kann einen andern bringen, der zugleich ein kleines musikalisches Interesse hat. Bei der Physharmonica blieb es mit aller Vervollkommung immer schwer sie für schnelle Sachen anzuwenden, weil die Metallzunge durch den Luftstrom nicht so augenblicklich in Vibration gesetzt wird, als es zu kurzen Noten oder Läufern erforderlich ist. Da hat man jetzt eine Erfindung gemacht und Kaufmann in Dresden baut danach Instrumente die er „Harmonium" nennt, die alles Wünschenswerthe aufs beste gewähren. Es schlägt beim Niederdrücken der Taste ein einzig kleines Hämmerchen an die Zunge mit einem Schlage, den man gar nicht hört, der aber doch vermag die Zunge augenblicklich für die Bewegung durch den Luftstrom zu disponiren, daß der Ton in der größten Schnelligkeit anspricht. Dr. Pfeiffer bekommt jetzt ein solches Instrument in seine Capelle in Alexanderbad; sie sind sehr leicht zu spielen und sind für den Choral besser als ein kleines Orgelpositiv. Das Hämmerchen, was die Zunge zuerst in Bewegung setzt, ist zu gegenwärtigem Briefe eine Bitte, die ich nicht im Auftrag aber zu Gunsten der Tochter von Moscheles an Sie wenden mochte. Sie hat ein mit guten Namen reich bedachtes Album, der Ihrige aber fehlt ihr noch; da wir zusammen dort waren hatte sie das größte Verlangen Sie zu bitten, natürlich aber nicht den Muth, es fiel ihr auch gar nicht ein, daß sie es thun dürfte. Das hat sie uns nun alles erzählt und ich und meine Frau wünschen nun ihr eine freudige Ueberraschung zu machen, wenn Sie die Güte haben wollten ein kleines Blättchen mit einigen Noten und Ihrem Namen ihr zu gewähren, vielleicht den Quintettanfang oder was Ihnen sonst mit geringer Mühe in die Feder kommt. Sie selbst weiß nichts von unserer Bitte und die Ueberraschung und Freude wird nur um so größer sein, wenn wir ihr das Blättchen bringen.



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 06.04.1858. Spohr beantwortete diesen Brief am 06.11.1858.

[1] Zum Konzert am 30.10.1858 vgl. „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 49 (1858), S. 205.

[2] Dem Konzertbericht zufolge August Fischer.

[3] Aus den „Venezianischen Epigrammen“: „Schüler macht sich der Schwärmer genug, und rühret die Menge, / Wenn der vernünftige Mann einzelne Liebende zählt. / Wunderthätige Bilder sind meist nur schlechte Gemälde: / Werke des Geist‘s und der Kunst sind für den Pöbel nicht da.“ (in: Goethe‘s Werke, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1815, S. 318f.).

[4] Zum Konzert am 02.11.1858 vgl. „Leipzig. Erstes Concert der Euterpe“, in: Neue Zeitschrift für Musik 49 (1858), S. 205.

[5] Vgl. „Leipzig. 5. Abonnementconcert. 4. November“, in: Neue Zeitschrift für Musik 49 (1858), S. 216; „Fünftes Abonnementconcert in Leipzig im Saale des Gewandhauses. Donnerstag den 4. November 1858“, in: Signale für die musikalische Welt 16 (1858), S. 454.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.03.2017).