Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Cassel d. 6ten Oktober
1858.

Hochverehrter Herr Generalmusikdirektor!

In einer unser Institut wie mich selbst persönlich sehr nahe berührenden Angelegenheit, erlaube ich mir, diese Zeilen an Sie zu richten, um uns Ihr gefälliges schriftliches Gutachten zu erbitten. –
Ohne Zweifel dürfte Ihnen noch erinnerlich sein, daß gelegentlich der im vorigen Jahre stattgefundenen Reparationen des Theaters unser Orchester weiter in das Proscenium hineingerückt wurde und gleichzeitig durch die Versetzung der sämmtlichen Contrabässe zur linken Seite des Dirigenten das ganze Streichquartett eine veränderte Placirung erhielt. Dieselbe mußte jedoch damals unmittelbar vor Wiedereröffnung des Theaters so schnell in’s Werk gesetzt werden, daß freyliches Arrangement durchaus nur einen provisorischen Charakter, d. h. der eines Versuchs haben konnte, umsomehr als dessen Mängel uns alzubald fühlbar wurden.
Sie, hochverehrter Herr, hatten noch einige Mal Gelegenheit, sich von der Unruhe und Unsicherheit unserer ersten Violinisten, welche nun sämtlich dem Dirigenten im Rücken sizten, zu überzeugen; ferner unterliegt es keinem Zweifel, daß die Bratschisten, hinter den 3 Contrabässen versteckt, ganz unfähig sind, dem leitenden Taktstock zu folgen. Den Versuch diesen Uebelstande abzuhelfen, mußte ich leider allein machen, da Sie kurze Zeit nach Wiedereröffnung der Saison von Ihrem ruhmreichen Wirken an hiesiger Hofbühne zurücktraten.
Um meiner Sache gewiß zu sein, zeigte ich die von mir vorzunehmenden Aenderungen unserem General-Intendanten1 an, der Alles ohne Weiteres meinem unbedingten Ermessen anheimstellte. Ich versuchte nun, vorläufig den oben besagten Hauptmißstande durch ein unter B näher verzeichnetes Arrangement abzuhelfen und erreichte meine Absicht vollkommen, indem ich die ersten Geigen, besonders aber die Conzertmeister vollkommen in meiner Hand hatte, die Bratschen auch weniger schleppten als früher; was auch selbst dieses von mir proponirte Arrangement noch mancherlei Uebelstände fühlbar machen durfte. –
Wenige Tage darauf erhielt ich unerwarteter Weise den allerhöchsten Befehl, die bisherige Ordnung der Dinge wiederherzustellen, welchem ich unverzüglich noch an demselben Tage entsprach. Doch konnte ich nicht umhin, dem Herrn General-Intendanten eine schriftliche Rechtfertigung der von mir vorgenommenen Reform, ferner eine Motivirung der Gründe, welche mich zu dem neuen Arrangement bewegen, zu überschicken, in der Hoffnung, daß diese2 allerhöchsten Ortes eine Sinnesänderung bewirken würden. Doch umsonst! – Man hat mich wiederholt darauf vertröstet, mir durch eine allerh. Erlaubniß die Möglichkeit zur Durchführung meines Planes u. gleichzeitig die gebührende Satisfaktion zu verschaffen. Leider harre ich aber auf diese seit Monaten vergeblich. Nun bin ich entschlossen, mir solche um jeden Preis zu erkämpfen und die Sache zum Biegen und Brechen zu bringen. Vor allem würde mir ein unbefangenes Gutachten von Ihrer Seite, hochverehrtester Herr, von angemessenem Werthe sein. Sie würden mich zu innigstem Danke verpflichten, wollten Sie meine Behauptung, daß die im Herbste dieses Jahres vorgenommene Placirung des Orchesters eine in der Eile bewerkstelligte und daher nur provisorische sein sollte, durch Ihre Beglaubigung bekräftigen, ferner Ihr unpartheiisches Urtheil sowohl über die Autoritätsrechte eines Dirigenten im Allgemeinen als über die im vorliegenden Falle speciell von mir gerügten Mängel der bisherigen Ordnung den Vortheile eines neu einzuführenden gegenüber mir schriftlich gefälligst zukommen lassen.
Ich habe ferner keinen Anstand genommen, ein ähnliches Ersuchen an die Hh. Kapellmeister Rietz, Lachner und Fischer zu richten und hoffe mit solcher Waffe den von mir vertheidigten Prinzipien dennoch endlich den Sieg zu erfechten!
Entschuldigen Sie, hochverehrtester Herr und Gönner, daß ich Sie mit dieser fatalen Angelegenheit belästige und sein Sie im Voraus meines innigsten Danks gewiß
Mit der Versicherung meiner unbegrenzten Verehrung, zeichne ich als

Ihr ergebenster
Carl Reiss

[Zeichnung mit Orchesteraufstellung]

Autor(en): Reiss, Carl
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Fischer, Carl Ludwig
Heeringen, Josias von
Lachner, Franz
Rietz, Julius
Wilhelm II. Hessen-Kassel, Kurfürst
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1858100643

Spohr



Spohr beantwortete diesen Brief am 08.10.1858.

[1] Josias von Heeringen.

[2] Hier ein Wort gestrichen („eine“?).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.11.2024).