Autograf: nicht ermittelt
Abschrift: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,197
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 399f. (teilweise)

Cassel, 12ten Juni 1858.

Geliebter Freund,

Der Überbringer dieser Zeilen quält mich wieder ihn Ihnen zu empfehlen. Er ist ein Russe aus Odessa mit Namen David, ist aber weder mit dem Leipziger Concertmeister noch mit dem Wüste1 David in Paris verwandt. Sein russischer Paß ist abgelaufen u. er kam vor kurzer Zeit schon einmal zu mir, bat mich ihm bey der hiesigen Polizey eine Aufenthaltskarte zu verschaffen und hier seine Musikstudien machen zu dürfen. Er hat sich mit der Komposition von hebräischen Sinagogen-Gesängen beschäftigt, ja man hatte ihm in Dresden sogar bey der dortigen Sinagoge die Stelle eines Vorsängers angetragen. Er konnte sie aber nicht annehmen, weil ihn die Polizey mit seinem russischen Paß keine Aufenthaltskarte geben wollte. Mehrere Celebritäten unter seinen Glaubensgenossen haben(?) sich seiner Ehre(?) annehmen wollen, wie Meyerbeer und Moscheles, der ihm einigen Unterricht im Clavierspiel gegeben hat, aber alle Versuche der Art sind wieder an der Polizey und Aufenthaltskarte gescheitert. Er war(?) damals(?), ehe ich einen Versuch machen konnte, ihm die Aufenthaltserlaubnis hier zu verschaffen, nach Frankfurt verreiset, [???] heute zurückgekommen, ergriffen(?) nur(?), daß er dort bey Rothschild2 u. einigen anderen reichen Juden Theilnahme u. Unterstützung gefunden habe, auch Aussicht habe durch den russischen Gesandten dort, einen neuen Paß für das Ausland zu bekommen. Daß er sich nun gern als Clavierlehrer in Deutschland fixiren möge, vorher aber mit Hilfe seiner dortigen Gönner erst noch Unterricht nehmen müsse. Nun habe man ihm [???] Ihren Namen genannt, versichert, daß Sie ein angesehener, verständiger Mann wären, der ihm am besten würde rathen können, daß man ferner gehört habe, ich wäre mit Ihnen befreundet u. am besten befähigt, Ihnen zu versichern, daß er Talent für Musik besitze, und bey eisernem Fleiß es bald zu Ehre und [???] bringen könne. Obgleich ich dafür begreiflich die Bürgschaft nicht übernehmen kann, so habe ich doch auch, der(?) ich noch in keiner Weise für ihn habe thätig sein können, ihm seine Bitte nicht verpflagen(?) können, und bitte Sie sehr seine Pläne anzuhören, und ihn mit Ihrer Lokalkenntniß und Ihrem Rath dabei gütigst zu unterstützen! – Ich habe meine neue Freiheit schon zu mehreren Excursionen benutzt, bin in diesem Frühjahr mit meiner Frau in Magdeburg u. in Bremen gewesen. In ersterer Stadt haben wir am Charfreitage mein Oratorium „Des Heilands letzte Stunden” sehr vorzüglich aufführen hören.3 In Bremen hörten wir am 1sten Mai noch eine viel bessere Aufführung vom „Fall Babylon’s”, und der dortige Künstlerverein hat mir ein paar Tage nachher ein glänzendes Fest gegeben, bey welchem ein Quartett von mir sowie mein erstes Doppelquartett aufgeführt wurden, dem sich dann ein Festessen in den schönen Räumen anschloß.4 Nun werden wir noch eine Reise nach Dresden u. Prag machen, um in Dresden Idomeneo von Mozart zum ersten Male im Leben zu hören u. in Prag dem Jubiläum des dorigen Conservatoriums beyzuwohnen. Wenn gegen den Herbst auf Ihrem Theater einmal wieder Medea von Cherubini angesetzt wird, so möchte ich die wohl auch einmal hören! Haben Sie doch die Güte, es mir zu schreiben, so werden wir dann noch einen Abstecher zu Ihnen nach Frankfurt machen. Herzliche Grüße an alle die Ihrigen. Wie immer Ihr Freund

(gez.) Louis Spohr.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 18.02.1858. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 04.09.1858.

[1] Wohl Anspielung auf Félicien Davids sinfonische Dichtung Le désert.

[2] Vermutlich Mayer Carl von Rothschild; denkbar wäre aber auch dessen jüngerer Bruder Wilhelm Carl von Rothschild.

[3] J.G., „Aus Magdeburg”, in: Neue Zeitschrift für Musik 48 (1858), S. 237f., hier S. 238; „Magdeburg”, in: Neue Berliner Musikzeitung 12 (1858), S. 133.

[4] Vgl. „Spohr in Bremen”, in: Bremer Sonntagsblatt 6 (1858), S. 148f. 

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.03.2016).

Cassel, 12. Juni 1858.

Geliebter Freund,

... Ich habe meine neue Freiheit schon zu mehreren Exkursionen benutzt, bin in diesem Frühjahr mit meiner Frau in Magdeburg und in Bremen gewesen. In ersterer Stadt haben wir am Karfreitage mein Oratorium ,Des Heilands letzte Stunden’ sehr vorzüglich aufführen hören. In Bremen hörten wir am 1. Mai noch eine viel bessere Aufführung von meinem ,Fall Babylons’, und der dortige Künstlerverein hat mir ein paar Tage nachher ein glänzendes Fest gegeben, bei welchem ein Quartett von mir sowie mein erstes Doppelquartett aufgeführt wurden, dem sich dann ein Festessen in den schönen Räumen anschloß. Nun werden wir noch eine Reise nach Dresden und Prag machen, um in Dresden ,Idomeneo’ von Mozart zum erstenmal im Leben zu hören und in Prag dem Jubiläum des dorigen Konservatoriums beizuwohnen. Wenn gegen den Herbst auf Ihrem Theater einmal wieder ,Medea’ von Cherubini angesetzt wird, so möchte ich die wohl auch einmal hören. Haben Sie doch die Güte, es mir zu schreiben, so werden wir dann noch einen Abstecher zu Ihnen nach Frankfurt machen. Herzliche Grüße an alle die Ihrigen.

Wie immer Ihr Freund
Louis Spohr.