Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.4 <Bott 18571204>
Druck 1: Louis Spohr, Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 384 (teilweise)
Druck 2: Horst Heussner, Die Symphonien Ludwig Spohrs, Phil. Diss. Marburg 1956, Anhang, S. 60f. (teilweise)

Sr. Wohlgeboren
Herrn Kapellmeister Bott
in
Meiningen.1


Cassel den 4ten December
1857

Mein lieber Jean,

Vor einiger Zeit schrieb ich an Frl. Sophie Horsley2, und bat sie, mir zu melden, wer der einflußreichste der Directoren der Philharmonischen Gesellschaft in London sey, um mich an diesen Deinetwegen zu wenden. Unterdessen erhielt ich einen Brief von Herrn Hogarth, Mitdirector und Secretair der Gesellschaft, in welchem mir der Antrag gemacht wurde, für die dießjährige Saison eine neue Sinfonie zu schreiben.3 Ich lehnte dieß ab, weil ich mir nicht mehr getraue eine zu Stande zu bringen4, die meinen andern, von der 2ten an, ebenbürtig an die Seite gestellt werden könnte5, und da ich nun den rechten Mann ausfindig gemacht hatte,6 so empfahl ich Dich diesem Herrn Hogarth für die Concerte als Solospieler und Director so warm und überzeugungsvoll, wie ich es nur vermag indem ich sie benachrichtigte, daß Du im Frühjahr ohnfehlbar in London eintreffen würdest!7 Ein gleiches habe ich nun auch an Benedict geschrieben!8 Du hast also nur, so Du in London ankommst, Dich an diese beyden Herrn zu wenden, und alles wird sich, ich zweifle nicht daran, zu Deiner Zufriedenheit arrangiren! Über Dein Unterkommen und Deine häusliche Einrichtung thut’s Du am besten, die Geschwister Horsley zu Rathe zu ziehen. Nur beeile Deine Reise nach London, soviel es sich thun läßt, weil die Concerte, wie mir Herr Hogard9 schreibt, schon im Aprill beginnen, und von da an, bis Ende Juni deren 8 stattfinden werden!
In Hamburg versäume nicht, die Familie Hildebrandt aufzusuchen, sie wohnt Nro 8, Deichthorstraße. Du weiß doch, daß die Schwester von Hildebrandt-Romberg den Violinisten Schmitt aus Hannover geheiratet hat. Kürzlich haben sie taufen lassen und ich war Pathe.10 Bernhard hat eine Lähmung am Arm gehabt; es geht jetzt aber wieder besser und er soll große Fortschritte gemacht haben und jetzt ganz köstlich spielen. Er und Schmitt haben die besten Instrumente von Sanke(???) angekauft und sind über deren Besitz sehr glücklich. Du wirst in ihrem Hause angenehme Stunden verleben. Versäume nicht, sie herzlich von uns zu grüßen.
Daß Dir Dein Wirkungskreis gefällt, und Du in Deiner Kunst recht thätig bis, freut mich sehr! Bleibe nur dabey, und versauere nicht nach und nach! Daß ich unterdessen vom Kurfürst, ohne mein Verlangen, in den Ruhestand versetzt worden bin und daß11 er mich, troz dem daß ich mir meinen Gehalt auf Lebenszeit ausbedungen hatte, mit 1.500 Rthlr. pensionirt hat, scheinst Du noch nicht erfahren zu haben. Es steht jedoch bereits, so wie auch die Beschreibung der Festivität, mit der ich zum letzten Mal die Jessonda im Theater dirigirte, in allen Zeitungen.12 Anfangs war es mir fatal, weil ich mich zum Dirigiren der wenigen Opern, die zuletzt noch meinen Antheil bildeten, noch vollkommen rüstig fühlte. Bald aber lernte ich meine jetzige Freiheit erkennen und würdigen und fühle mich nun sehr froh, in jedem Augenblick auf die Eisenbahn gehn und und hinfliegen zu können, wohin ich will! Auch habe ich mir die Pensionirung gefallen lassen, weil ich erfuhr, daß ich ohne ei[nen] neuen Prozeß nicht die Auszahlung des vollen [Ge]halts würde erwirken können und weil es [mei]nem Gefühl widerstrebte, ohne alle Gesch[äfte] von meiner Seite, den vollen Gehalt anneh[men] zu sollen, da ich [auch] mit 3/4, mit Hülfe meine[s] Ersparten, sehr [gut au]skommen kann!13 Bey den vereinten Singve[reinen]14 bin ich vor der Hand noch geblieben. Vor dem Charfreitage werde ich aber auch diesen Posten an den Kapellmeister Reis abgeben müssen.
Indem ich Dir für Deine Londoner Reise recht viel Glück wünsche, bleibe ich von Herzen

der Deinige
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Bott, 01.12.1857. Bott beantwortete diesen Brief am 20.12.1857.

[1] Auf dem Adressfeld befinden sich die Poststempel: „Cassel / 4 / 12 / 1857 / 5N-6N“, „Eisena[ch] / 5 / 12 / [???“ und (nur halb abgedruckt und sehr blass) „Meiningen / 5 / [...]“.

[2] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[3] Vgl. George Hogarth an Spohr, 12.11.1857.

[4] „eine zu Stande zu bringen“ über der Zeile eingefügt.

[5] „könnte“ über der Zeile eingefügt.

[6] Hier gestrichen: „und da ich nun“.

[7] Vgl. Spohr an Hogarth, 25.11.1857.

[8] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[9] Sic!

[10] Vgl. Fritz Schmidt an Spohr, 13.11.1857.

[11] „daß“ über der Zeile eingefügt.

[12] Vgl. „Kassel”. in: Neue Berliner Musikzeitung 11 (1857), S. 388; „Louis Spohr”, in: Süddeutsche Musik-Zeitung 6 (1857), S. 202; „Dr. L. Spohr. Minden, 28th November”, in: Musical World 35 (1857), S. 824.

[13] Vgl. Spohr an Wilhelm Speyer, 27.11.1857.

[14] Cäcilienverein und Singakademie.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (22.05.2020).