Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 46f. (teilweise)

Leipzig, den 23. Nov. 1857.

Die Nachricht, daß Sie in den Ruhestand versetzt sind, hat uns in eben der Weise getroffen wie Sie selbst empfunden haben. Das erste Gefühl war für uns betrübend und wehmüthig, dann folgte aber auch ein freudiges, daß Sie nun ungebunden und von manchem Lästigen und Unangenehmen befreit würden leben können, und so stimmen auch wir für diese Seite in die Glückwünsche ein die Ihnen von den Ihrigen gebracht worden sind; Sie bleiben uns doch die Säule der guten Musik, das Dirigentenpult thut dazu nichts.
August Walter kam in diesen Tagen zu mir; es ist ein schöner offner liebenswürdiger junger Mann, die Herzen gewinnend beim ersten Eintreten, talentvoll und geschickt und persönlich anmuthig.
Ob Sie viel Freude an Rubinstein's Ocean haben werden, bezweifle ich fast. Es müßte sein insofern Talent überhaupt darin zu erkennen ist. Das hört man aus allen Rubinstein'schen Compositionen; eben auch aber scheint es in allen, daß er sich nicht hinreichend zusammen nimmt, seine Ideen nicht reif werden läßt, auch oft bloße Einfälle für Ideen nimmt und Willkürliches für Nothwendiges bringt. Es geht ihm aber auch entsetzlich leicht von der Hand. Einige 20 Jahre alt sind schon weit über 50 Werke von ihm gedruckt und er hat noch unendlich Vieles liegen. Sein Spiel aber ist ganz außerordentlich, nicht blos von fabelhafter Fertigkeit, auch von vieler Schönheit. Wie er eben auch ein gescheuter und leicht umgänglicher Mensch von leiblicher und geistiger Gesundheit ist.
Wir haben kürzlich Frau Lind-Goldschmidt hier gehabt, die noch außerordentlich schön singt, auch den allgemeinsten und größten Beifall fand.1 Wenn Sie vielleicht in manchen Blättern etwas lesen sollten von „gefallener Größe" oder gar von „Ruine"2, so versichere ich, daß gar nichts ruinirt an ihr ist, und daß man nur die größte Freude an ihrem Gesang haben kann. Wir haben sie diesen Sommer in Dresden gehört3 und fanden jetzt ihre Stimme nur viel schöner und eine Technik, die man, soweit sie damit geht, nur bei der Viardot wiederfindet, nur daß diese noch viel verwegener damit verfährt.

Autor(en): Hauptmann, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Lind, Jenny
Walter, August
Erwähnte Kompositionen: Rubinstein, Anton : Okean
Erwähnte Orte: Dresden
Leipzig
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1857112333

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 17.11.1857. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 06.04.1858.

[1] Vgl. „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 47 (1857), S. 237f.

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] Vgl. „Reisen, Concerte, Engagements“, in: Neue Zeitschrift für Musik 47 (1857), S. 250.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (14.03.2017).