Autograf: Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (D-DS), Sign. Br./Spohr,L. 2

Sr. Wohlgeborn
Herrn Fr. Hauser
Director des Musikkonserva-
toriums
zu
München.
 
 
Cassel den 15ten
Juli 1857.
 
Geehrter Freund,
 
Der Überbringer dieser Zeilen ist Herr W. Scheffer, der sich um die, durch1 den Abgang des Herrn Scholz erledigt werdende Lehrerstelle am Conservatorio bewerben will, und mich deshalb um einige Zeilen Empfehlung bittet. Ich weiß von dem Lehrer des Herrn Scheffer, Professor Kühmstedt in Eisenach, daß H.S. einer seiner begabtesten Schüler war, und da Kühmstedt einer der jetzt lebenden besten Contrapunktisten ist, so läßt sich wohl voraussetzen, daß der Schüler bey der gerühmten Begabung desselben, auch den Anforderungen die man an einen Lehrer des Contrapunkts machen kann, genügen wird. Ich trage daher keine Bedenken, ihn Ihnen für die erledigte Stelle bestens zu empfehlen, um so mehr da ich Herrn S. als vielsetig gebildet und fähigen Musiker selbst kenne.
Wie soll ich Ihnen den Eindruck schildern, den die Nachricht von dem plözlichen Tode Ihres hoffnungsvollen Sohns auf uns alle, die wir so innigen Antheil an ihm nehmen, machte! – Der Musikdirektor Markull aus Danzig, der im vorigen Herbst sein Oratorium, das Gedächtniß der Entschlafenen hier aufführte, erzählte mir, daß er kürzlich seine Oper „Otto der Schütz”1a in Königsberg unter der vortrefflichen Leitung Ihres Sohnes gehört2 habe3, und wuste mir dessen Eifer und Geschick in der Leitung des dortigen Theaters nicht genug zu rühmen, erschreckte mach aber auch durch den Zusatz, er fürchte, der junge Mann übernehme sich in seinem Eifer, denn er sey während der Aufführung im Orchester ohnmächtig zusammengesunken. Leider erfolgte bald darauf die Nachricht von seinem plözlichen Tode, und man fühlt nun deutlich, daß er ein Opfer seines Kunstenthusiasmus geworden ist, was bey seiner vielseitigen Begabung doppelt zu beklagen ist! Was Sie verehrter Freund gelitten haben müssen, kann ich, dem eine geliebte Tochter von 19 Jahren durch ein Nervenfieber in wenigen Tagen entrissen wurde4, wohl mitempfinden! Deshalb drängte es mich auch hier mein herzliches Beyleid auszusprechen! Der Himmel gebe Ihnen Trost.
Mit wahrer Hochachtung und Freundschaft
 
der Ihrige
Louis Spohr.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hauser an Spohr, 23.06.1856.

[1] Hier gestrichen: „Herr”.
 
[1a] [Ergänzung 13.01.2022:] Alternativer Name für Das Walpurgisfest.
 
[2] Hier gestrichen: „und”.
 
[3] Vgl. L[ouis] Köhler, „Königsberg“, in: Neue Zeitschrift für Musik 45 (1856), S. 219. [Ergänzung 13.01.2022: „Königsberg“, in: Signale für die musikalische Welt 14 (1856), S. 518; Friedrich Wilhelm Markull an Spohr, 03.11.1856.]
 
[4] Therese Spohr (vgl. z.B. Spohr an Wilhelm Speyer, 05.06.1838).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.06.2017).