Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: LaMara (= Pseud. für Marie Lipsius), Musikerbriefe aus fünf Jahrhunderten, Bd. 2, Leipzig o.J., S. 68ff.
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einer Abschrift des Kammermusikers Albert Venus

Cassel den 27sten Mai 1857.
 
Geliebter Freund,
 
<...> Sie wünschen zu wissen, wohin ich diesen Sommer reise? Leider nicht in einer Richtung, wo ich hoffen dürfte Sie zu sehn. Meine Frau hat Holland noch nicht gesehn, und dieß veranlaßt mich, die Ferienzeit zu einer Reise dorthin zu benutzen. Ich habe aus früherer Zeit manch liebe Bekannte daselbst, die ich mit Vergnügen wieder zu sehen hoffe; auch gedenke ich mich ein oder zwei Tage in Cöln aufzuhalten, um die Bekanntschaft mit Hiller und dem Professor Bischoff wieder anzuknüpfen, und Max Bruch kennen zu lernen, dem ich durch Empfehlung seiner Preisarbeit das Stipendium der Mozartstiftung in Frankfurt verschafft habe.1 Es liegt mir nämlich daran zu sehen und zu hören, auf welchem Wege er ist? denn die jetzige Art zu komponiren ist mir so verhaßt geworden, daß ich es für meine Pflicht halte, einen jungen begabten Künstler vor den Zukunftsmusikern zu warnen, und ich fürchte, daß dieß Hiller, sein Lehrer, nicht ernstlich genug thut.
((Wie soll ein junger Künstler bey der Unverschämtheit, mit der diese Richtung und ihre Helden angepriesen werden, sich genug vor der Ansteckung dieser Pest bewahren!
Ich habe freilich an Jean Bott erfahren, wie wenig ein Abmahnen fruchtet.2 Vieleicht hat sich bey diesem Max Bruch aber doch so viel gesundes Ohr und Verstand erhalten, daß meine Warnung einen fruchtbaren Boden findet!
Ich habe unserm Publico, welches sich, wie Sie wissen, für Wagner’sche Musik lebhaft interessiert, nun in diesem Winter auch eine symphonische Dichtung3 von Liszt zu hören gegeben. Ich hoffe aber, daß es damit ein für alle Mal abgethan ist, und daß es nach keiner zweiten verlangen wird!)) Mich macht diese neue Musik ganz unglücklich und flößt mir wirklichen Widerwillen gegen alle Musik ein, so, daß ich schon daran gedacht habe, es wäre doch nicht übel, wenn am 13ten Juni durch den Zusammenstoß mit dem Cometen4 dieser [jämmerlichen] Wirthschaft wirklich ein Ende gemacht würde! ((Haben Sie den Brief von Wagner über die symphonischen Dichtungen in der Brendel’schen Zeitung gelesen?5 Es erstaunt einen, wie der arme Wagner sich abquält, um seinem Gönner das Lob, womit er ihn so reichlich übergossen hat, einigermaßen zurückzugeben.))
Vor einigen Tagen war Liszt hier auf der Reise zum Musikfest in Aachen((. Da er wegen Geschwüren am Bein, an welchen er seit der Reise nach Ungarn fortwährend leidet, und die bey ihm, wie er selbst sagt, durch den dortigen Wein aufgerührt seyn sollen nicht gehen konnte, so ließ er)) <und er ließ> mich einladen, bey ihm den Abend zuzubringen. Er erzählte mir viel herrliches von den neuen Arbeiten Wagners, von denen er 2 Opern das Rheingold und die Walküre mitgebracht habe, die er aber auf Verlangen des Komponisten nicht eher geben dürfe, als bis auch die beyden letzten des Nibelungen Zyclus fertig seyen. Ich fragte ihn, ob es wahr sey, daß im Rheingold die Singenden an Drähten hängen müßten, weil die Scene bald auf dem Grunde des Rheins, bald auf der Oberfläche desselben sey. So hatte mir nämlich Fischer in Dresden erzählt. Er lachte sehr und sagte, das sey ein guter Witz von Wagners Gegnern, setzte aber hinzu, an Schwierigkeiten bey der Aufführung dieser Opern wird es aber nicht fehlen, da Wagner allerley Veränderungen im Orchester verlangt, unter andern auch, daß es dem Zuschauer völlig unsichtbar sey! Ich fragte ihn, ob er sich diesem Verlangen fügen werde? In so fern es möglich ist, gewiß! antwortete er. Doch genug von diesem Unsinn und nur noch herzliche Grüße von mir und meiner Frau an die liebe Ihrige. Warum begleiten Sie sie nicht hieher? Das wäre schön!
 
Von Herzen der Ihrige
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Hauptmann an Spohr. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 17.11.1857.
Die kompilierte Fassung folgt hier der vollständigeren (vielleicht sogar vollständigen) Wiedergabe nach der Abschrift. Die Kürzungen im Druck sind durch doppelte runde Klammern (( )) wiedergegeben, eine durch die Kürzungen notwendig gewordene Ergänzung sowie eine als Kürzung markierte Stelle, für die es in der Abschrift keinen Hinweis gibt, durch dreieckige <>.
 
[1] Vgl. Ulrike Kienzle, Neue Töne braucht das Land. Die Frankfurter Mozart-Stiftung im Wandel der Geschichte (1838-2013) (= Mäzene, Stifter, Stadtkultur 10), Frankfurt am Main 2013, zu Bruchs Bewerbungsverfahren und Zeit als Stipendiat insgesamt S. 105-129, zu Spohrs Gutachten hier s. 116f.
 
[2] Vgl. Spohr an Hauptmann, 05.11.1854.
 
[3] Tasso (vgl. Spohr an Franz Wüllner, 04.03.1857).
 
[4] Für den 13.06.1857 gab es Vorhersagen für einen Weltuntergang durch einen Kometenzusammenstoß, der vielfach publizistisch aufgenommen wurde, zu einem großen Teil satirisch (vgl. Frankfurter Allgemeine Kometen- und Weltuntergangs-Zeitung letzter Jahrgang (1857); Prophezeiung des Dr. M. Nostradamus über den Welt-Untergang am 13. Juni 1857, München 1857).
 
[5] Richard Wagner, „Ein Brief von Richard Wagner über Franz Liszt“, in: Neue Zeitschrift für Musik 46 (1857), S. 157-163.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.03.2017).

Cassel den 27sten Mai 1857.
 
Geliebter Freund,
 
Sie wünschen zu wissen, wohin ich diesen Sommer reise? Leider nicht in einer Richtung, wo ich hoffen dürfte Sie zu sehn. Meine Frau hat Holland noch nicht gesehn, und dieß veranlaßt mich, die Ferienzeit zu einer Reise dorthin zu benutzen. Ich habe aus früherer Zeit manch liebe Bekannte daselbst, die ich mit Vergnügen wieder zu sehen hoffe; auch gedenke ich mich ein oder zwei Tage in Cöln aufzuhalten, um die Bekanntschaft mit Hiller und dem Professor Bischoff wieder anzuknüpfen, und Max Bruch kennen zu lernen, dem ich durch Empfehlung seiner Preisarbeit das Stipendium der Mozartstiftung in Frankfurt verschafft habe. Es liegt mir nämlich daran zu sehen und zu hören, auf welchem Wege er ist? denn die jetzige Art zu komponiren ist mir so verhaßt geworden, daß ich es für meine Pflicht halte, einen jungen begabten Künstler vor den Zukunftsmusikern zu warnen, und ich fürchte, daß dieß Hiller, sein Lehrer, nicht ernstlich genug thut.
Wie soll ein junger Künstler bey der Unverschämtheit, mit der diese Richtung und ihre Helden angepriesen werden, sich genug vor der Ansteckung dieser Pest bewahren!
Ich habe freilich an Jean Bott erfahren, wie wenig ein Abmahnen fruchtet. Vieleicht hat sich bey diesem Max Bruch aber doch so viel gesundes Ohr und Verstand erhalten, daß meine Warnung einen fruchtbaren Boden findet!
Ich habe unserm Publico, welches sich, wie Sie wissen, für Wagner’sche Musik lebhaft interessiert, nun in diesem Winter auch eine symphonische Dichtung von Liszt zu hören gegeben. Ich hoffe aber, daß es damit ein für alle Mal abgethan ist, und daß es nach keiner zweiten verlangen wird! Mich macht diese neue Musik ganz unglücklich und flößt mir wirklichen Widerwillen gegen alle Musik ein, so, daß ich schon daran gedacht habe, es wäre doch nicht übel, wenn am 13ten Juni durch den Zusammenstoß mit dem Cometen dieser jämmerlichen Wirthschaft wirklich ein Ende gemacht würde! Haben Sie den Brief von Wagner über die symphonischen Dichtungen in der Brendel’schen Zeitung gelesen? Es erstaunt einen, wie der arme Wagner sich abquält, um seinem Gönner das Lob, womit er ihn so reichlich übergossen hat, einigermaßen zurückzugeben.
Vor einigen Tagen war Liszt hier auf der Reise zum Musikfest in Aachen. Da er wegen Geschwüren am Bein, an welchen er seit der Reise nach Ungarn fortwährend leidet, und die bey ihm, wie er selbst sagt, durch den dortigen Wein aufgerührt seyn sollen nicht gehen konnte, so ließ er mich einladen, bey ihm den Abend zuzubringen. Er erzählte mir viel herrliches von den neuen Arbeiten Wagners, von denen er 2 Opern das Rheingold und die Walküre mitgebracht habe, die er aber auf Verlangen des Komponisten nicht eher geben dürfe, als bis auch die beyden letzten des Nibelungen Zyclus fertig seyen. Ich fragte ihn, ob es wahr sey, daß im Rheingold die Singenden an Drähten hängen müßten, weil die Scene bald auf dem Grunde des Rheins, bald auf der Oberfläche desselben sey. So hatte mir nämlich Fischer in Dresden erzählt. Er lachte sehr und sagte, das sey ein guter Witz von Wagners Gegnern, setzte aber hinzu, an Schwierigkeiten bey der Aufführung dieser Opern wird es aber nicht fehlen, da Wagner allerley Veränderungen im Orchester verlangt, unter andern auch, daß es dem Zuschauer völlig unsichtbar sey! Ich fragte ihn, ob er sich diesem Verlangen fügen werde? In so fern es möglich ist, gewiß! antwortete er. Doch genug von diesem Unsinn und nur noch herzliche Grüße von mir und meiner Frau an die liebe Ihrige. Warum begleiten Sie sie nicht hieher? Das wäre schön!
 
Von Herzen der Ihrige
Louis Spohr

Cassel den 27sten Mai 1857.
 
Geliebter Freund,
 
[...] Sie wünschen zu wissen, wohin ich diesen Sommer reise? Leider nicht in einer Richtung, wo ich hoffen dürfte Sie zu sehn. Meine Frau hat Holland noch nicht gesehn, und dieß veranlaßt mich, die Ferienzeit zu einer Reise dorthin zu benutzen. Ich habe aus früherer Zeit manch liebe Bekannte daselbst, die ich mit Vergnügen wieder zu sehen hoffe; auch gedenke ich mich ein oder zwei Tage in Cöln aufzuhalten, um die Bekanntschaft mit Hiller und dem Professor Bischoff wieder anzuknüpfen, und Max Bruch kennen zu lernen, dem ich durch Empfehlung seiner Preisarbeit das Stipendium der Mozartstiftung in Frankfurt verschafft habe. Es liegt mir nämlich daran zu sehen und zu hören, auf welchem Wege er ist? denn die jetzige Art zu komponiren ist mir so verhaßt geworden, daß ich es für meine Pflicht halte, einen jungen begabten Künstler vor den Zukunftsmusikern zu warnen, und ich fürchte, daß dieß Hiller, sein Lehrer, nicht ernstlich genug thut. [...]
Mich macht diese neue Musik ganz unglücklich und flößt mir wirklichen Widerwillen gegen alle Musik ein, so, daß ich schon daran gedacht habe, es wäre doch nicht übel, wenn am 13ten Juni durch den Zusammenstoß mit dem Cometen dieser Wirthschaft wirklich ein Ende gemacht würde! […] Vor einigen Tagen war Liszt hier auf der Reise zum Musikfest in Aachen und er ließ mich einladen, bey ihm den Abend zuzubringen. Er erzählte mir viel herrliches von den neuen Arbeiten Wagners, von denen er 2 Opern das Rheingold und die Walküre mitgebracht habe, die er aber auf Verlangen des Komponisten nicht eher geben dürfe, als bis auch die beyden letzten des Nibelungen Zyclus fertig seyen. Ich fragte ihn, ob es wahr sey, daß im Rheingold die Singenden an Drähten hängen müßten, weil die Scene bald auf dem Grunde des Rheins, bald auf der Oberfläche desselben sey. So hatte mir nämlich Fischer in Dresden erzählt. Er lachte sehr und sagte, das sey ein guter Witz von Wagners Gegnern, setzte aber hinzu, an Schwierigkeiten bey der Aufführung dieser Opern wird es aber nicht fehlen, da Wagner allerley Veränderungen im Orchester verlangt, unter andern auch, daß es dem Zuschauer völlig unsichtbar sey! Ich fragte ihn, ob er sich diesem Verlangen fügen werde? In so fern es möglich ist, gewiß! antwortete er. Doch genug von diesem Unsinn und nur noch herzliche Grüße von mir und meiner Frau an die liebe Ihrige. Warum begleiten Sie sie nicht hieher? Das wäre schön!
 
Von Herzen der Ihrige
Louis Spohr