Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Scortleben bei Weißenfels d. 5 April
1857.

Hochgeehrter Herr General-Musikdirector!

Durch Gottes Güte ward Ihnen wieder ein Lebensjahr unter geistigen und leiblichen Wohlthaten geschenkt, und hochbegnadigt stehen Sie vor Gott u. bringen heut ihren kindlichen Dank im Gebet ihm dar. Mit diesem Dank vereinigt sich auch meine Fürbitte, daß Gott Sie ferner auch mit Gesundheit, Friede und Freude in dem heiligen Geiste segnen und Ihr uns theures Leben vor allem Uebel behüten möge. Diesen Glückwunsch rufe ich Ihnen am Morgen Ihres Geburtstages, und zwar in einer für mich feierlichen Stunde zu, da so eben die sämtlichen schönen Glocken unserer Kirche nach altem Gebrauch in der 4. Stunde des Morgens der christlichen Gemeinde den Sonntag Palmarum verkündigen, an welchem die Kinder im Gotteshause von mir confirmirt werden. Mögen diese ehernen Zeugen in ihrem Dreiklang die Weihe u. das Amen zu diesen meinen Geburtstagswünschen sprechen. Ihr Geburtstag, hochgefeierter Herr, ist mir stets ein höchst wichtiger u. zuglich heiliger Tag; denn durch den mächtigen Zauber Ihrer Töne welche sich in Ihren Kompositionen überall zu Tage legt ist mir ein ganz anderes Leben aufgegangen u. mein Herz veredelt und geheiligt worden. Und welchen Trost haben Sie mir gebracht in den Leidensstunden meines vielbewegten Lebens. Darum tausend Dank sei Ihnen dafür von mir gesagt an Ihrem Geburtstage; und ich spreche gewiß nur das aus, was all Ihre Verehrer mit mir fühlen und so traeu in der Brust tragen, bis wir getragen werden von dem Engel des Friedens in ein besserer Leben, wo all Differenzen sich herrlich auflösen u Leid u Geschrei nicht mehr sein wird.
Es wird Ihnen gewiß nicht uninteressant sein, wenn ich am dem heutigen Tage den Ausspruch eines Mexikaners1 über Ihre Kompositionen Ihnen mittheile. Da ich nämlich von dem Geiste Ihrer Werk ganz getragen werde und denselben ganz in mich aufgenommen habe, so haben meine Freunde mir schon oft gesagt, daß in meinen liturgischen Compositionen u. in der freien Fantasie auf dem Pianoforte man gleich Spohr höre. Als ich nun vor einiger Zeit in einer großen Gesellschaft auf dem Flügel zu spielen gebeten wurde, & keine Noten vorhanden waren, so wurde ich genöthigt zu fantasiren. Gleich nach dem Spiel trat der Amerikaner auf mich mit der Frage: „In welchem Jahre haben Sie bei Spohr Musik studirt?“ Als ich dies in Abrede stellte, ihm aber entgegnete, daß ich Ihre Kompositionen über Alles liebe, sprach er: „Das ist schön, denn die ganze Spohrsche Musik ist Religion u. ihr Grund die Liebe.“ Am folgenden Tage besucht er mich in meinem Hause, u. war überaus glücklich Briefe von Ihrer Hand zu sehen; und ließ nicht eher nach, bis ich ihm einen2 zu seinem Eigenthum überließ, den er, wie er sagte, jenseits des Weltmeeres auch wie ein Heiligthum bewahren werde. Dieser Mexikaner hat mir von dem Briefe selbst eine eigenhändige Abschrift hinterlassen. Mehrere meiner Arrangements aus Ihren Oratorien für die Kiche als liturgische Chorgesänge eingerichtet hat derselbe auch von mir erhalten, u. will sie auch dort in dem evangelischen Kirchen in gleichen Maß(?) einführen, wie ich es hier in den preußischen Kirchen gethan. - Auf künftigen Charfreitag wird in vielen Kirchen unserer Gegend u. zwar während der Liturgie den von mir vierstimmig in 4/4 Takt gesetze schöne Chor „Wir drücken dir die Augen zu“ aus Ihrem Oratorium mit sanfter Orgelbegleitung gesungen werden. Ich freue mich sehr, daß dieser Chor in allen Gemeinden so grßen Eindruck macht. Meine Frau hatte in der Kirche bei Aufführung dieser unübertrefflichen Composition viele Thränen vergossen. Leider wird dieselbe in diesem Jahre den Gesang nicht hören können, weil sie an Lungensteinen schwer darnieder liegt. Die Kränklichkeit meines ältesten Sohnes u. die meiner Frau hat mich auch im vorigen Jahr an der Reise nach Kassel gehindert. Ihr überaus freundlicher Brief, Herr General-Musikdirector, vom 12. April v. J. hat mir die Hoffnung gemacht bei meinem Aufenthalt in Cassel an einer Quartettparthie Antheil nehmen zu dürfen, wofür ich im Voraus danke &3 mich schon sehr freue. Möge nun Gott den Meinen Gesundheit schenken, so komme ich diesen Sommer.
Auf künftigen Charfreitag Nachmittag 5 Uhr wird auf meine Veranlassung mein alter Freund Thieme in Halle u zwar in der großen prächtigen Hauptkirche der Stadt, wo derselbe zugleich Organist ist u. früher Türk u. Naue war, Ihr Vater-Unser u. das Stabat mater von Pergolese mit 250 Sänger aufgeführt. Die Chöre sind bekanntlich in Halle besser als in Leipzig, welches selbst die Leipziger stets rühmlich anerkennen. Unter den ausgezeichneten Leitung meines Freundes erwarte ich eine sehr gute Aufführung u. ein zahlreiches Auditorium, zumal Thieme in Halle in musikalischer Hinsicht mehr Ansehen genießt als der arrogante Robert Franz, dem alle Komponisten außer Händel, Bach u. ihm selbst Staub unter den Füßen sind. Jetzt läuft er auch Liszt u. Wagnern nach, weil er auf einen Füßen nicht fest zu stehen glaubt, u. um Universitäts-Musikdirector zu werden bedurfte er Liszt Posthörnchens in der Brendelschen „Musikzeitung.4 -
Ich selbst werde am Charfreitag nach der Nachmittagskirche nach Halle reisen u. der Aufführung beiwohnen. Daß die Aufführung in der Kirche u. nicht im großen Saale des Waisenhauses statt findet ist mir sehr lieb, da dergleichen Aufführung in der Kirche besser besucht werden. Ich fürchtete anfangs, daß das Consitorium zu Magdeburg die Aufführung in der Kirche nicht genehmigen würde, weil der Text von Mahlmann ist. - Bei uns in Preußen geschehen jetzt gar wunderliche Dinge. So hat der General-Superintendent Jaspis in Stettin die Aufführungen „der Tod des Jesu“ von Graun in den Kirchen von Pommern am Charfreitag verboten.5 Man will bei uns christlicher als Christus sein; darum sitzen wir an den Flüssen Babilons u. haben unsere Harfen aufgehängt an die Weiden u. weinen. Unsere musikalischen Zustände sind mehr Nothstände geworden. Liszt mit seinen schrecklich langen Haaren zieht auch bei uns manchen Narren nach sie, u. das ist gut, denn dadurch scheidet sich das Reine von dem Unreinen. Der zum Meisterhaupt(???) gewordene Herr versammelt seine Jünger alljährlich in der Domkirche zu Merseburg, wo seinen staunenden Verehrern eine neue Fuge über B.A.C.H. auf der allerdings schönen Orgel zum Besten gegeben wird.6 Hier werden die Steine der Zukunftsmusik gelegt. Ich kann über diese Concerte nur das Wort der Bibel sprechen lassen: „In ihrer Weisheit sind sie zu Narren geworden.“7 Das Posaunenregister der Brendelschen Zeitung zeigte dem ruhigen unpartheischen Manne nur ein ridiculus mus8, wie Horaz sagt. -
Dürfte ich auch jetzt eine schon früher mehrmals ausgesprochene Bitte wiederholen, so wäre es die: daß Sie, Herr Doctor, so gütig sein möchten das Vater-unser u. die Abendmahlsworte für eine Gesangstimme mit Orgelbegleitung zu komponiren. Es ist ein Gedanke, den ich nicht unterdrücken kann, weil in unsern Tagen kein Komponist so wie Ew. Hochwohlgeboren befähigt ist, eine dem Texte ganz würdige u. angemessene Komposition zu liefern. Das Werk wird schon den Meister loben!
So leben Sie denn herzlich wohl. Gott mag Sie segnen immerdar bis ans Ende der Tage. Hochachtungsvoll u. ergebenst habe ich die Ehre mich nennen zu dürfen

Ihr
dankbarer Heinrich Weber Pfarrer.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Weber, 12.04.1856. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Weber an Spohr, 04.04.1859.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] „danke &“ über der Zeile eingefügt.

[4] Vgl. Franz Liszt, „Robert Franz“, in: Neue Zeitschrift für Musik 43 (1855), S. 229-235 und 241-247.

[5] Vgl. „Stettin“, in: Monatschrift für Theater und Musik 3 (1857), S. 231.

[6] Vgl. Fr[anz] Br[endel], „Großes Orgelconcert zu Merseburg am 26sten September“, in: Neue Zeitschrift für Musik 43 (1855), S. 156f.

[7] Römer 1,22.

[8] „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ (Gebirge wollen gebären, und nur eine lächerliche Maus wird hervorgebracht, Horaz, De arte poetica, 139). - Auch Liszt begann seinen Aufsatz über Robert Franz mit einem ausführlichen Horaz-Zitat.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.12.2017).