Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeehrtester Herr Kapellmeister!

Nur in wenigen Worten u eiligst will ich Ihnen mittheilen mit welcher allgemeinen Begeisterung die Aufführung u Aufnahme Ihres herrlichen Werkes gestern Abend vor sich gegangen ist.1 Ich habe Hrn Rühl noch ganz besonders versprochen mit diesen Zeilen zu eilen u von ihm, von den H. Speyer, Schnyder v. Wartensee, Henkel2 u. a. Notabilitäten den Ausdruck ihres freudiges Dankes voraus zu danken, denn Sie werden noch besondere Schreiben von einigen derselben erhalten. Rühl hatte eine höchst vollendete Einstudirung erreicht; er versteht es mit seltenem Geschick korrekt einzustudiren, deshlab die Chöre durchweg fehlerlos, sicher, mit sprechender Deklamation vorgetragen wurden u. eine ergreifende Wirkung machten. Ich habe die Männerchöre nie mals besser gehört, weiß aber3 überhaupt nicht, was ich am besten loben sollte, denn die gemischten Chöre schlugen gleichfalls durch. Es war wirklich nett, daß man jede gegenwärtige Nummer für die schönste hielt u Speyer folgerichtig u. mit noch besondern Gründen unterstützt den Schlußchor für den besten erklärte. Im Solo wirkten einige vom Theater neben einigen Liebhabern. Sopran u Alt ganz vorzüglich, dsgl. Cyrus. Belsazar war in der Probe viel besser, hat aber gleichwol nichts verdorben. Einige Nummern habe ich im Tempo anders gewnscht, so z.B. das Wiegenlied schneller u. im Ganzen viel zarter, ätherischer. Frl. Veith ist eine so recht frischpulsirende Natur, die leicht über das Ziel hinaus schießt, ferner die Arie: Gedenke Herr p war mir zu langsam. Das Terzett: Kündet laut war mir dagegen zu schnell. In meiner Erinnerung liegen die Tempi’s sehr genau ich konnte sie aber hier natürlich nur als4 meine subjektive Auffassung geltend machen u. obgleich Rühl meine Ansicht meist theilt, so mußte den Sängern, die mit so sehr viel Liebe sangen, auch etwas nachgegeben werden, indem sie gleichfalls Gründe aufstellten, welchen man die Anerkennung nicht versagen konnte. Diesen Bemerkungen legen Sie aber gefälligst nur keinen besondern Werth bei, den sie nicht haben soll. Wie gesagt: die Aufführung war eine meisterhafte; Sie hätten sicherlich große Freude daran gehabt. Unserer) acht schickten Ihnen gestern Abend um 10½ Uhr eine telegraphische Depesche, allein das Bureau nahm sie nicht an, weil Cassel keinen „Nacht“-Dienst habe. Für hier ist das Conzert ein Ereigniß zu nennen, indem viel Rivalität nebst Animeusität vorhanden ist. Gern arbeitete ich daher schon früher im Stillen vor, u mein Schriftchen5 sollte nur ein rascheres Verständniß fördern, welchen Zweck es auch wol erreicht hat, trotz seiner Mängel. Ich bitte um dasfallsige gütige Nachsicht. Da ich keins davon in Händen habe, so wird der Buchhändler an Sie eins gehen lassen wozu ich ihn beauftragen werde. Ich leide so sehr an den Augen, möchte darum die Manuscripte Ihrer Frau Gemahlin noch einige Wochen behalten dürfen. Es wird bald eine zweite Aufführung stattfinden. Ganz gehors. Diener
DrDrescher.

Autor(en): Drescher, Emil
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Henkel, Heinrich
Henkel, Theodor
Rühl, Friedrich Wilhelm
Schnyder von Wartensee, Franz Xaver
Speyer, Wilhelm
Veith, Franziska
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Fall Babylons
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen: Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1857022849

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Drescher an Spohr, 04.02.1857.

[1] Zur Aufführung am 27.02.1857 vgl. „Zur Tagesgeschichte Frankfurts“, in: Frankfurter Nachrichten. Extrabeilage zum Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt (1857), S. 218-221, hier S. 220; Erasmus, „Briefe aus Frankfurt a.M.”, in: Neue Zeitschrift für Musik 46 (1857), S. 235ff., hier S. 236; Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt 25.02.1857, 2. Beilage, nicht paginiert.

[2] Aus dem Zusammenhang lässt sich nicht erschließen, ob hier der Pianist Heinrich oder der zu dieser Zeit ebenfalls in Frankfurt tätige Musikalienhändler Theodor Henkel gemeint ist.

[3] „aber“ über der Zeile eingefügt.

[4] „nur als“ über der Zeile eingefügt.

[5] Emil Drescher, Skizze zu dem Oratorium von Louis Spohr: „Der Fall Babylons“, Frankfurt am Main 1857.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.01.2022).