Autograf: Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.Hass. 287

Frankfurt a/m d 28t Febr. 57.

Hochgeehrtester Herr,

Mit recht inniger, aufrichtiger Freude kann ich Ihnen über die gestrige Aufführung Ihres meisterlichen Oratoriums berichten.1 – Der Erfolg war ein in jeder Beziehung glänzender. Die Chöre, einstudirt um dem geehrten Meister Freude zu machen, waren das vollendetste, was ich jemals von mehrstimmigem Gesang hörte. Herrliche, frische Stimmen, richtige Proportion2 der verschiedenen Stimmgattungen, bis in die kleinsten Details ausgeführter Kunstgesang, aus reiner Begeisterung der Sänger – dieß Alles zusammen konnte nicht verfehlen, die Chöre zu wahren Kunstproductionen zu erheben. Ich werde zeitlebens bedauern, daß Sie nicht zugegen waren, die Solisten waren durchweg sehr gut – Cyrus3 ausgezeichnet. Das Orchester, mit Präcision einstudirt, ebenfalls in Wärme gebracht, wirkte so gut es irgend möglich war. Die Proportion zwischen Sängern und Instrumentalisten konnte nicht besser sein – das Blech, erste Clarinette, 1t Oboe waren vorzüglich. – An der ganzen Aufführung wüßte ich nicht das Geringste zu tadeln, außer, daß bei der Vision die Blasinstrumente etwas weniger schwach spielten, als ich gewünscht hätte; doch glaube ich kaum, daß, außer mir selbst, irgend Jemand darauf besonders aufmerksam werden konte – Die Wirkung auf das Publikum war außerordentlich, der Saal so gedrängt voll, daß die Zuhörer bis gegen das Podiium der Sänger eingeklemmt waren; und doch blieben alle in der fürchterlichen Hitze ruhig und theilnehmend bis zum Schlusse anwesend.
Zum Schlusse möchte Sie noch bitten, das in diesen Zeilen Gesagte nicht so deuten zu wollen, als ob ich Ihnen gerade nur Angenehmes zu fragen beabsichtigte. Nehmen Sie vielmehr Alles für die ungeschminkteste Wahrheit, und seyen Sie überzeugt, daß ich mit gleicher Offenheit auch weniger Erfreuliches berichtet hätte, wenn solches vorhanden gewesen wäre. –
Vielleicht hören Sie noch von andrer Seite die Bestätigung meiner Aussage.4

Mit herzlicher Verehrung
Ihr
ganz ergebenster
F.WRühl.

Autor(en): Rühl, Friedrich Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Hill, Karl
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Fall Babylons
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen: Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1857022844

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 22.02.1857.

[1] Vgl. „Spohr ’s Oratorium: ,Der Fall Babylons’“, in: Frankfurter Nachrichten (1857), S. 220.

[2] Am Wortende gestrichen: „en“.

[3] Karl Hill (vgl. Rühl an Spohr, 12.02.1857).

[4] Vgl. Emil Drescher an Spohr, 28.02.1857.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2023).