Autograf: Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.Hass. 287

Frankfurt a/m d. 22t Febr. 57.

Hochgeehrtester Herr!

Ich brauche wohl nicht zu sagen, mit welchem Bedauern wir Alle die Nachricht empfingen, daß Sie nicht herkommen könnten. Mir insbesondre wurde dadurch – ich darf es wohl aussprechen – ein wahrer Kummer bereitet; denn gerade durch eine Aufführung würde ich Ihnen vielleicht näher gekommen sein, als durch alle Worte der Welt. –
Ich Wegbleiben zwingt mich aber, noch zweierlei in Anregung zu bringen, was ich beabsichtigte, mündlich abzumachen. –
1.) Seite 140 der Partitur, Takt 7; der bereits müde Tenor hat hier das Hauptmotiv Solo vorzutragen, und zwar in eine Tonlage, welche für unsere gewöhnlichen Chortenore nur forçirt (und dennoch undel) zu erreichen ist. Die Unterstützung durch die Bratsche allein scheint mir bedenklich, und wäre ich sehr geneigt, diese Stelle durch die Altposaune, und zwar bis zur ersten Note des Taktes 2, S. 141 – unterstützen zu lassen. Sie Sie damit einverstanden?
2.) Ist denn in der Vision das angezeigte Tempo ♩ = 96 Ihre wahre Herzensmeinung? Für den freudigen Ausdruck der Textesworte würde1 ich mir wohl eine gehobenere Stimmung des Propheten denken können, auch selbst dann, wenn sein Geist, wie hier, auf Momente der Gegenwart entrückt ist. Ich kann mich nur mit Zwang in das vorgeschriebene Tepo finden, und glaube doch auch nicht, daß die Viertelnote, statt einer Halben, irrthümlich gedruckt seyn, denn [Halbenote] = 96 würde uns mehr in eine Art Begeisterung führen, von der2 Beethoven bei dem körperlich heruntergebrachten Florestan eine Schilderung sehr glücklich versuchte – Seelenzustand, wie er beim Hungerthyphus sich einzustellen pflegt. – Wenn Ihnen die Mühe nicht zu groß ist, so lassen Sie mir noch einige belehrende Winke über meine beiden Anstände zukommen, d. h. ungehend. – Mit aller Hochachtung
Ihr ganz ergebenster
F.WRühl.

P.S. Dr Drescher hat eine kleine Broschüre3 über das Oratorium4 geschrieben, welche der Verein drucken läßt. Sie wird nicht unwesentlich den Zuhörern als Führer bei dem Conzerte dienen. FWR.

Autor(en): Rühl, Friedrich Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Drescher, Emil
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Fall Babylons
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen: Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1857022244

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 12.02.1857. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 28.02.1857.

[1] „würde“ über gestrichenem „möchte“ eingefügt.

[2] Hier zwei oder drei Buchstaben gestrichen.

[3] Emil Drescher, Skizze zu dem Oratorium von Louis Spohr: „Der Fall Babylons, Frankfurt am Main 1857; vgl. Drescher an Spohr, 04.02.1857.

[4] Hier gestrichen: „drucken“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2023).