Autograf: Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.Hass. 287
Frankfurt a/m d. 1t Jan. 1857.
Hochgeehrtester Herr!
Es ist nicht mehr als billig, daß ich den ersten Brief in diesem Jahr mit einem guten Wunsche beginne, und so wünsche ich denn von Herzen, daß Ihnen der liebe Gott die herrlichen Gaben, womit er Sie vor den Meisten Ihrer Zeitgenossen in so reicher Fülle bedacht hat, noch recht lange erhalten und Ihnen biszum letzten Augenblick die Freude an Sich selbst belassen möge!
Seit einigen Wochen studire ich mit meinem Verein an dem „Fall Babylons“. – Die Mitglieder lernen das Werk mit großem Interesse, und werden daran desto wärmer, je mehr sie sich hineinleben. Wir versprechen hier demselben einen großen Erfolg. Die Zeit der Aufführung kann ich nur annähernd bestimmen, da ich niemals eher zu einer solchen schreite, als bis sämtliche Mitsingenden nicht mehr von den Noten, sondern aus der Seele singen, und bis der Chor im Stande ist, alle den Anforderungen zu entsprechen, welche die strengste Kritik an ein Soloquartett stellen würde. Auf diese Art erziele ich Kunstleistungen, wie sie vielleicht selten zu hören sein dürften. – Ende dieses Monats hoffe ich mit Einstudiren fertig zu sein – obgleich ich1 am Piano nur 9 Finger zur Disposition habe – (ich hatte vor 3 Wochen das Mißgeschick, auf die merkwürdigste Art von der Welt – beim Strumpfausziehen – den Mittelfinger der rechten Hand zu brechen). – Die Hoffnung, Sie bei der Aufführung bei uns zu sehen, habe ich noch lange nicht aufgegeben. So etwas läßt sich oft noch einrichten, wenn man selbst kurz vorher noch nicht weiß wie. –
Worüber mir Ihr Rath wünscheswerth wäre, ist Folgendes:
1.) Seite 67 der Partitur muß es wohl heißen ♪ = 92?
2.) Seite 70 von Rakt 3 bis S. 71 Takt 2 – liegt der erste und zweite Baß so tief, daß meine Bassiten, deren ich höchsten 30 habe, worunter aber die meiste mit nicht tiefer Stimmlage, da unten gar nicht wirken können. Bei großen Musikfesten findet sich immer eine Anzahl Sänger, welche die Tiefe stark besitzt, obgleich die extremen Stimmlagen mehr in extremen Klimaten zu finden sind. In Rußland gibts viele tiefe Bassisten und bei der Kaiserlichen Capelle sind mehrere Sänger, welche bei den Musiken des Orlando Lasso u Palestrina den Baß um eine Oktave tiefer – also 16füßig, mitsingen, wodurch eine wunderbare Wirkung zeitweise erzielt werden soll. Aus eigenem Anhören kann ich darüber nicht urtheilen. – Halten Sie nun außerordentlich viel darauf, daß diese Stelle gerade so sein solle, und nicht anders? Selbst auf die Gefahr hin, daß sie wirkungslos verschwinde? Die Mithülfe des Fagotts ist nicht hoch anzuschlagen, und die Hülfe der Contrabässe scheint mir eher bedenklich als genügend – denn für die ist’s ein Leichtes, in den ganz tiefen Lagen die wenig hörbaren Singstimmen zuzudecken. Würden Sie nicht vielleicht einer kleinen Abänderung den Vorzug geben? Vielleicht sind Sie selbst so gefällig eine solche zu machen – den Baß gerade um eine Oktave höher zu legen, will mir nicht recht behagen, wenn nicht der Contrabaß auch eine Oktav höher darf. –
Ein Gleiches ist’s mit der Stelle S. 74 – T. 5 -
ebenso S. 79 – Takt 1 bis 6 -
Seite 95 – Takt 3 u. 4. mögte ich für den zweiten Baß auch höher wünschen, auch schon um der größeren Eindringlichkeit der kraftvollen Worte willen.
Ebenso unmaßgeblich so:
Perserbanner in die
Es würde sich fragen, ob bei dieser Stelle (und bei der feststehenden Melodie) nicht an Kraft genommen würde, was durch Aufgabe der Vierstimmigkeit an Noten verloren ginge. –
S. 95 – letzte Note im Baß – die lasse ich unbedingt eine 8’ höher
S. 207. Takt 4 u. 5 – und wo die Stelle ferner noch vorkommt. – Hier werden Sie wohl nichts dagegen haben, wenn ich diese Teile so singen lasse
Wünschen Sie die punktirte Note erhalten zu sehen, so lasse ich singen:
Ich bedauere, Sie mit diesen Kleinigkeiten behelligen zu müssen, hoffe aber, daß Sie daraus schließen werden, wie sehr es mir Ernst ist, Ihr Meisterwerk mit größtmöglichster Sorgfalt aufzuführen. Die Ehre eines Dirigenten besteht nicht allein darin, daß er die großen Umrisse groß und kühn hinzeichne; er muß gleichwohl die kleinsten Details mit feinem Geschmack zu geben wissen, und gleich einem guten Maler für jeden Strich einstehen können, auch wenn seine Mühe nur von ihm und dem Componisten erkannt werden sollte. –
Die mir von Cassel gefälligst überschickten Stimmen ewaren nicht ausreichend, und da ein Theil derselben in ungewöhnlichen Schlüsseln geschrieben ist, so haben wir und uns noch 100 Stimmen in Leipzig gekauft. –
Dr Drescher beabsichtigt eine kleine Broschüre2 über den Fall Babylons zu schreiben, was sehr zweckmäßig sein wird – besonders wenn sie vor der Aufführung gelesen wird. – Schnyder schrieb ein Gleiches zu den Jahreszeiten3, welche ich kürzlich aufführte und bei übervollem Saale wiederholen mußte. Wir haben gefunden, daß die Idee eine sehr glückliche war. – Vor der Aufführung bin ich so frey, nochmals an Sie zu schreiben. –
Mit größter Hochschätzung
Ihr ganz ergebener
F.WRühl.
Autor(en): | Rühl, Friedrich Wilhelm |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Drescher, Emil Orlando di Lasso Palestrina, Giovanni Pierluigi da |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Der Fall Babylons |
Erwähnte Orte: | Frankfurt am Main |
Erwähnte Institutionen: | Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1857010144 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 07.08.1856. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 12.02.1857.
[1] Hier gestrichen: „nur“.
[2] Emil Drescher, Skizze zu dem Oratorium von Louis Spohr: „Der Fall Babylons“, Frankfurt am Main 1857; vgl. Drescher an Spohr, 04.02.1857.
[3] Möglicherweise eine frühere Aufl. v. [Franz Xaver] Schnyder von Wartensee, Aesthetische Betrachtungen über die Schöpfung. Oratorium von Joseph Haydn, zum besseren Verständniss der Werkes bei seiner Aufführung zur Einweihung des neuen Musiksaales in Frankfurt a. M., Frankfurt am Main 1861.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2023).