Autograf: Lippische Landesbibliothek Detmold (D-DT), Sign. Mus-h 17 S 15
Druck: Otto von Meysenbug, „Beiträge zur Geschichte musikalischen und theatralischen Lebens in Detmold”, in: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde 3 (1905), S. 177-204, hier S. 195f.

Cassel den 31sten December
1856.

Hochgeehrter Herr Kapellmeister,

Von Ihrem Durchlauchtigsten Fürsten bin ich mit einem freundlichen Schreiben1 und einem schönen Geschenk beehrt worden. Da ich Sr. Durchlaucht nicht schon wieder mit einem Schreiben behelligen möchte und ohnehin Ihnen eine Bitte vorzutragen habe, so ersuche ich Sie zugleich ihm meinen tiefgefühltesten Dank für Beides ausdrücken zu wollen. Ich gebe der Vorstecknadel2 noch eine besondre, für mich schmeichelhafte Bedeutung. Da sie eine Eichel vorstellt und die Eichel das Symbold des deutschen Wesens ist, so glaube ich in der Gabe eine Anerkennung zu finden, daß mein Streben in der Kunst ein echt deutsches sei, worauf ich sehr stolz sein werde.
Meine Bitte bezieht sich auf die symphonischen Dichtungen von Liszt, die mir der Komponist im Herbst sämtlich in Partitur schenkte.2b Was Sie mir über das Einüben derselben mit Ihrer Kapelle schrieben, interesssierte mich daher sehr und ich fand Ihr Urteil mir ganz aus der Seele gesprochen. Auch ich halte diese Producte der Zukunftsmusiker für gar keine Musik mehr. Da es aber unter unserm Concertpublikum doch einige gibt, die sich dafür interessieren und für Wagner’sche und Berlioz’sche Musik sogar schwärmen und da über die außerordentliche Wirkung dieser symphonischen Dichtungen da und dort in der neuen Leipziger Musik-Zeitung fabelhafte Berichte erschienen sind3, so möchte ich doch einige dieser Compositionen unserm Publiko in den Abonnementsconcerten vorführen, damit es einen Begriff bekomme, welche Wege die allerneuste Kunst betreten hat und was besonders der Anführer dieser neuen Richtung zu leisten im Stande ist. Meine Bitte geht also dahin, daß Sie die Güte haben wollen und die ausgeschriebenen Stimmen von einigen dieser Dichtungen zu einer Aufführung in unsern Concerten auf kurze Zeit zu borgen. Da Sie sie haben in wiederholten Proben genau kennen lernen, so bitte ich, daß Sie die Auswahl gefälligst treffen wollen von denen , die noch am leichtesten zu überwältigen sind und am meisten wie andre Musik klingen. Abweichend von aller andern Musik werden sie doch noch hinlänglich erscheinen. Sollten Sie die Stimmen jetzt nicht entbehren können, so bitte ich daum in einiger Zeit, wenn der Zeitpunkt eintritt, daß man sie bei Ihnen nicht mehr hören mag. Ich bin überzuegt, daß dieser Moment nicht sehr lange auf sich warten lassen wird. Einer gelegentlich gefälligen Antwort, ob die Gewährung meiner Bitte stattfinden kann, entgegensehend, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung ganz

der Ihrige
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Kiel, August
Erwähnte Personen: Berlioz, Hector
Leopold III. Lippe-Detmold, Fürst
Liszt, Franz
Wagner, Richard
Erwähnte Kompositionen: Liszt, Franz : Festklänge
Liszt, Franz : Mazeppa
Liszt, Franz : Orpheus
Liszt, Franz : Prometheus
Liszt, Franz : Les Préludes
Liszt, Franz : Tasso
Erwähnte Orte: Kassel
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Detmold>
Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1856123108

https://bit.ly/

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Kiel an Spohr, 08.10.1856. Kiel beantwortetete diesen Brief am 04.01.1857.

[1] Leopold III. zu Lippe-Detmold an Spohr, 24.12.1856.

[2] Der Verbleib dieser Nadel ist derzeit unbekannt.

[2b] [Ergänzung Karl Traugott Goldbach, 21.10.2016:] 1856 lagen im Druck vor: Tasso, Les Préludes, Orpheus, Prometheus, Mazeppa und Festklänge (vgl. Spohr an Liszt, 27.05.1856).

[3] Z.B. Hans v[on] Bülow, „Ein Lohconcert der fürstlichen Capelle in Sondershausen”, in: Neue Zeitschrift für Musik 45 (1856), S. 99-102; Rez., „Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen für großes Orchester”, in: ebd., S. 226ff.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.07.2016).

Cassel, den 31. Decbr. 1856.
Hochgeehrter Herr Kapellmeister!
Von Ihrem Durchlauchtigsten Fürsten bin ich mit einem freundlichen Schreiben und einem schönen Geschenk beehrt worden. Da ich Se. Durchlaucht nicht schon wieder mit einem Schreiben behelligen möchte und ohnehin Ihnen eine Bitte vorzutragen habe, so ersuche ich Sie zugleich ihm meinen tiefgefühltesten Dank für Beides ausdrücken zu wollen. Ich gebe der Vorstecknadel noch eine besondre, für mich schmeichelhafte Bedeutung. Da sie eine Eichel vorstellt und die Eichel das Symbold des deutschen Wesens ist, so glaube ich in der Gabe eine Anerkennung zu finden, daß mein Streben in der Kunst ein echt deutsches sei, worauf ich sehr stolz sein werde.
Meine Bitte bezieht sich auf die symphonischen Dichtungen von Liszt, die mir der Komponist im Herbst sämtlich in Partitur schenkte. Was Sie mir über das Einüben derselben mit Ihrer Kapelle schrieben, interesssierte mich daher sehr und ich fand Ihr Urteil mir ganz aus der Seele gesprochen. Auch ich halte diese Producte der Zukunftsmusiker für gar keine Musik mehr. Da es aber unter unserm Concertpublikum doch einige gibt, die sich dafür interessieren und für Wagner’sche und Berlioz’sche Musik sogar schwärmen und da über die außerordentliche Wirkung dieser symphonischen Dichtungen da und dort in der neuen Leipziger Musik-Zeitung fabelhafte Berichte erschienen sind, so möchte ich doch einige dieser Compositionen unserm Publiko in den Abonnementsconcerten vorführen, damit es einen Begriff bekomme, welche Wege die allerneuste Kunst betreten hat und was besonders der Anführer dieser neuen Richtung zu leisten im Stande ist. Meine Bitte geht also dahin, daß Sie die Güte haben wollen und die ausgeschriebenen Stimmen von einigen dieser Dichtungen zu einer Aufführung in unsern Concerten auf kurze Zeit zu borgen. Da Sie sie haben in wiederholten Proben genau kennen lernen, so bitte ich, daß Sie die Auswahl gefälligst treffen wollen von denen, die noch am leichtesten zu überwältigen sind und am meisten wie andre Musik klingen. Abweichend von aller andern Musik werden sie doch noch hinlänglich erscheinen. Sollten Sie die Stimmen jetzt nicht entbehren können, so bitte ich darum in einiger Zeit, wenn der Zeitpunkt eintritt, daß man sie bei Ihnen nicht mehr hören mag. Ich bin überzeugt, daß dieser Moment nicht sehr lange auf sich warten lassen wird. Einer gelegentlich gefälligen Antwort, ob die Gewährung meiner Bitte stattfinden kann, entgegensehend, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung ganz der Ihrige
Louis Spohr.