Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Reinecke:1

Barmen 19 Dec. 1856

Hochgeehrter Herr Kapellmeister!

Soeben bringt mir Herr Seiss Ihren freundlichen Gruß und die Mittheilung, daß Sie sich sehr gütig über mein Werk geäußert haben und sogar die Freundlichkeit haben wollten, dieselbe aufzuführen; zu diesem Behufe aber die Orchesterstimmen von mir geliehen zu haben wünschten. Ich bin nun sehr betrübt, daß ich diesen Ihren Wunsch jetzt nicht erfüllen kann, da die Concert-Direction die Ouverture augenblicklich noch nicht angeschafft hat, während die geschriebenen Stimmen, nach denen sie im vorigen Jahre hier gespielt ward, unbrauchbar geworden sind, indem ich späterhin manche Aenderungen machte. Mein einziges Exemplar aber habe ich jetzt nach Berlin geliehen, woselbst H MD Stern sie aufführen wird. Gleicherzeit aber bin ich von Bonn und von Cleve aus darum gebeten worden und habe ich auch dahin natürlich abschlägige Antwort geben müssen, während ich natürlich zugleich bedauerte, daß auf diese Weise des Verleihens1 die Herrn Verleger schwerlich für2 ihre Opfer belohnt würden. Ganz besonders schmerzen würde es mich nun, wenn der Umstand, daß ich Ihnen jetzt ken Exemplar senden kann, der Grund wäre, daß mein Werk in Cassel nicht gemacht würde, denn ich wäre stolz gewesen, wenn ein Werk von mir gerade unter Ihrer Leitung gemacht wäre, unter der Leitung eines Großmeisters der Kunst, die ich so unsäglich liebe, und der mir schon von meiner Jugend an ein leuchtendes Vorbild war und mir so unglaublich viel schöne Augenblicke gemacht hat. Schon als Kind, da ich noch vorzugsweise Geige spielte und mit rastlosem Eifer Ihre Schule durchstudirte habe ich mit Entzücken Ihrer „Weihe der Töne“ gelauscht und habe meinen Vater so lange gequält bis er sie uns für unsere3 Hausmusik, nämlich für Clavier, Streichquartett und Flöte arrangirte, und, so mittelmäßig, ja vielleicht erbrämlich unsere Ausführung dieser Symphonie geklungen haben mag, so war ich doch dabei im dritten Himmel; dann ward auch die Ouverture zum Faust für Streichquartett und Flöte arrangirt, dann sang ich mit meiner Schwester das Blumenduett aus Jessonda und spielte mit ihr die Ouverture zur selbigen Oper etc, kurz, ich habe Ihnen von meiner Kinderzeit an viel selige Stunden zu danken, und thue das dem nach seither. Verzeihen Sie mir, daß ich so ins Plaudern kam, es geschah, weil ich mich so unwillkürlich in meine herrliche Jugendzeit träumte, und dabei vergaß, daß sie für Sie nicht das Interesse hat wie für mich. Zürnen Sie4 mir aber darum nicht, u. darüber5 daß ich augenblicklich nicht im Stande bin Ihr Begehren zu erfüllen. Nehmen Sie, geehrtester Herr Capellmeister schließlich noch den Ausdruck meiner innigsten Verehrung

von Ihrem
Carl Reinecke.

Autor(en): Reinecke, Carl
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Reinecke, Rudolf
Seiss, Isidor
Stern, Julius
Erwähnte Kompositionen: Reinecke, Carl : Dame Kobold
Spohr, Louis : Jessonda
Spohr, Louis : Violinschule
Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte: Berlin
Bonn
Kleve
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1856122944

Spohr



[1] „des Verleihens“ über der Zeile eingefügt.

[2] „für“ über der Zeile eingefügt.

[3] Hier ein Wort gestrichen.

[4] Hier gestrichen: „ab(?)“.

[5] „darüber“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (14.07.2023).