Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. N.Mus.ep. 2814

Herrn
Heinrich Sczadrowsky
Musikdirector
in
St. Gallen
Schweiz.


Cassel den 8ten December
1856.

Hochgeehrter Herr,

Wenn Sie außer dem Gedicht, das meiner Sinfonie1 zum Grunde liegt, auch noch die Erklärungen geben, die ich jedem Satze beygefügt habe, so ist im Grunde alle geschehen, was zum Verständniß des Werks erforderlich ist. Wollen Sie Ihr Publikum aber im Voraus auf das Werk aufmerksam machen, so wird dazu die beyfolgende Beurtheilung eines englischen Blatts2 nach der ersten dortigen Aufführung dienen können, welche ich deshalb aus den vorhandenen Beurtheilungen ausgewählt habe, weil die Engländer sich überhaupt vielmehr für meine Arbeiten interessirt haben, als irgend eine andere Nation, meine Landsleute nicht ausgenommen. Wollen Sie denselben auch noch die Bemerkungen beyfügen, die sich mir beym Durchlesen der englischen Kritik aufgedrängt haben, so wird es mir um so lieber seyn. Zu a.) In einem musikalischen Kunstwerke, so alle Zustände in Tönen ausgedrückt sind, kann die Leere und Stille in der Natur, bevor der Ton erschaffen war, auch nicht anders als durch Töne ausgedrückt werden. Es wäre daher die Entschuldigung dieses Umstands kaum nöthig gewesen.3 Zu b.) Was der englische Beurtheiler hier das Trio des Marsches nennt4, gehört gar nicht zu ihm, sondern ist eine Zwischenscene, die die Gefühle der Zurückbleibenden malen soll, hauptsächlich die Beängstigungen der Braut des in die Schlacht gezogenen Kriegers, und die Tröstungen der Eltern. Die Bemerkung die der Kritiker beym Schluß zu c macht5, veranlaßt mich, zu der Bitte, das Schluß-allegro ja recht ruhig und würdevoll zu machen, dann wird es die nöthige Beruhigung gewähren und nicht zu lang erscheinen.
Obgleich nun meine Sinfonie im Vergleich mit den Symphonischen Dichtungen von Liszt, an die sich Ihr Orchester, wie Sie mir schreiben, gemacht hat6, kinderleicht ist, so bedarf sie doch, wenn alle Intenzionen dem Zuhörer klar werden sollen, eines sehr genauen Einübens und vieler Proben; besonders des 2ten Satzes, damit die verschiedenen Taktarten desselben sich ohne Störung und bemerkliche Rückung recht ruhig an einander reichen(?). Es geschieht am leichtesten, wenn der Dirigent die 16tel-Bewegung bey allen 3 Taktarten recht gleichmäßig angibt. Die Vogelstimmen müssen von den Blasinstrumenten, besonders der Clarinette im Voraus eingeübt werden.
Indem ich Ihnen und mir nun eine recht gelungene Aufführung wünsche, unterzeichne ich hochachtungsvoll als

Ihr
ergebener
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Szadrowsky, Heinrich
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Liszt, Franz : Orpheus
Liszt, Franz : Les Préludes
Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1856120815

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Szadrowsky an Spohr, 04.12.1856. Szadrowsky beantwortete diesen Brief am 03.03.1857.

[1] Die Weihe der Töne.

[2] „Philharmonic Society“, in: Musical World 32 (1854), S. 230.

[3] Vgl. „We admit of no vacuum in the world of sound, and can see nothing absurd in describing silence by means of music [...]“ (ebd.).

[4] Vgl. „The march s a triumph of instrumentation – one of the most exhilarating things in the range of music. The trio pleases us less – it is laboured, and excessively spun out, and rather morbid than impressioned“ (ebd.).

[5] Vgl. „The prayer for the dead, and the consoling beauty of the finale are beyond all praise. The only reproach to this last movement is its brevity“ (ebd.).

[6] Les Préludes und Orpheus (vgl. Vorbrief).

Kommentar und Verschlagwortung, sofern in den Anmerkungen nicht anders vermerkt: Karl Traugott Goldbach (24.10.2019).