Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.hist.lit. 15[224
Druck 1: Ferdinand Sieber, „Von der Nothwendigkeit umfassender technischer Studien im Gesange“, in: Berliner Musik-Zeitung Echo 7 (1857), S. 65f. hier S. 65 (teilweise)
Druck 2: Ders., „Die Nothwendigkeit technischer Studien im Gesange“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst 3 (1857), S. 211f., hier S. 211 (teilweise)
Druck 3: Hermann Erler, „Drei ungedruckte Briefe von Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Louis Spohr“, in: Berliner Tageblatt 03.03.1902 [Ausgabe 113], nicht paginiert [S. 7]
Druck 4: Autographen aus verschiedenem Besitz. Auktion am 29. und 30. November 1966 (= Katalog Stargardt 577), Marburg 1966, S. 183 (teilweise)

Sr. Wohlgeboren
Herrn Ferdinand Sieber
Gesanglehrer an der neuen Academie der Tonkunst
in
Berlin
unter den Linden, 43.
 
 
Cassel den 20sten October
1836.
 
Hochgeehrter Herr!
 
Entschuldigen Sie gütigst, daß ich Ihnen erst jetzt für die freundliche Zusendung Ihres „Lehrbuchs der Gesangskunst“1 meinen innigen Dank sage; es war jedoch natürlich, daß ich vorher das Werk erst genau kennen lernen wollte! Dieß ist nun geschehen und es hat mir viel Genuß und Belehrung gewährt. Besonders freut es mich, daß Sie die Verwilderung der jetzigen Singerey so scharf rügen2, denn von einem wirklichen, edlen Gesange ist mir nur noch eine Erinnerung aus meiner frühesten Jugendzeit, aus dem Anfange des Jahrhunderts geblieben, denn ohne diese würde ich gar nicht begreifen können, wie mich Gesang jemals hätte rühren und ergreifen können! Denn was man jetzt hört, selbst von Sängern von Ruf, ist kein Gesang, sondern nur ein rohes, wüstes Geschrei, was einem Künstler von Bildung unmöglich Freude oder Genuß gewähren kann, ja, was dem Komponisten seine eigenen Sachen ganz zuwieder machen kann, wenn er sie von den jetzigen Sängern vortragen hört. Ihr Werk kommt daher sehr zur rechten Zeit, und wenn es in diesem ersten Theile den Sängern einen Spiegel Ihrer Verirrungen und Verwilderungen vorhält, so ist noch mehr zu wünschen daß der 2te Theil die nachwachsende Generation lehre, wie sie durch ein ernstes Studium, wie es sonst in frühern Zeiten existirte, die Verwilderung und Rohheit des jetzigen Gesanges vermeiden lerne. Lassen Sie daher ja recht bald den 2ten Theil Ihres Buches3 folgen, und gebe Apollo seinen Seegen, daß es recht allgemein wirke!
Nochmals meinen besten Dank, auch für Ihren lieben Brief, welchen ich der Frau von Malsburg mittheilen werde, so bald sie von ihrem Gute nach der Stadt zurückgekehrt seyn wird.
Leben Sie wohl. Mit vorzüglicher Hochachtung ganz
 
der Ihrige
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Sieber, Ferdinand
Erwähnte Personen: Malsburg, Caroline von der
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1856102015

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Sieber an Spohr, 07.09.1856.

[1] Ferdinand Sieber, Vollständiges Lehrbuch der Gesangskunst zum Gebrauche für Lehrer und Schüler des Sologesangs, Magdeburg 1856.
 
[2] Vgl. z.B. ebd., S. 102f.
 
[3] Nachdem Sieber 1856 zunächst nur den ersten Teil seines Lehrbuchs veröffentlicht hatte (s.o.), erschien 1858 ebenfalls in Magdeburg eine vollständige Ausgabe, die alle drei Teile – theoretische Lehre, praktische Methode des Unterrichts und Vortragslehre – vereinte: Ferdinand Sieber, Vollständiges Lehrbuch der Gesangskunst zum Gebrauche für Lehrer und Schüler des Sologesanges, Magdeburg 1858.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (27.02.2018).