Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr Wohlgeb.
des General Kapellmeisters
Herr Louis Spohr
in
Cassel

frc1


Naumburg a/S. d. 11 April 56

Hochgeehrtester Herr Gen. Kapellmeister!

In meinen alten Tagen, muß ich, anstatt mich zur Ruhe setzen zu können, ein sehr bewegtes Leben führen. Seit Mitte Januar, habe ich bereits 6 Reisen gemacht und binnen 14 Tagen stehen mir dann noch 2. bevor. Während die Übrigen sich auf 4-6 Tage beschränkten, nahm die, anfangs Febr. war 3 Wochen hinweg. Mein Sohn in Hamburg gieng nämlich nach Süd-Amerika um seine Commandite daselbst einmal zu revidiren; – Da nun seine Abwesenheit ziemlich 9 Monath dauern wird, so gab es noch manches zu besprechen und zu reguliren. Nächst dem hatte ich mancherlei Geschäfte in Hannover und Berlin abzumachen; so daß die 3 Wochen noch nicht einmal zureichten um Alles zu beseitigen. Neben so mancherlei ersten Arbeiten, waren diese Tage aber auch Tage des musikalischen Genusses; denn es vergieng keiner ohne daß ich, Abends, nicht in Akademien, Concerten, Opern und Schauspielen, das Schönste hörte und sah. Außerdem traf ich, in Hamburg mit Grund, Lachner, v. Roda und einem tüchtigen jungen2 Gesanglehrer und Sänger „Garvens“ zusammen; besuchte in Hannover Marschner, welchen ich, seit seinem Beginn in Leipzig, nicht wieder gesehen; – lernte, in Berlin, den Jul. Stern kennen; hörte Paulus sehr gut ausführen und, – was mich indessen von Allem am innigsten ansprach, wohnte einer Liturgie des Domchors, unter Neithardt, in der vollgestopften Domkirche, Abends von 6 bis 7½ Uhr bei. Dies war ein köstliicher Genuß! – Nicht nur der Gesang des Chors – den ich nie so schön gehört, – sondern auch die ganze übrige kirchliche Feier bei erleuchteter Kirche, die sanft gehalten, ohne alle Doxa und Zwischenspiele begleitende Orgel, zu den Lieder etc., die dazwischen fallenden kurzen aber kernigen Ansprachen eines trefflichen Predigers, – kurz es war ein Gottesdienst, wie er mir schon lange in der Seele gestanden! – Die übervolle Kirche, – Montags, größtentheils von der vornehmen Classe, und von jedem Alter; die große Stille, Aufmerksamkeit und Rührung; – bewies, daß es auch Andern, selbst solche, die man für gewöhnlich nicht in der Kirche sieht, eben wie mich ansprach. In Hannover bildet der Kapellmeister Wehner jetzt auch Domchor. Ob es aber, an Reinheit und gediegenem Vortrage, dem Berliner gleichen wird, möchte ich sehr bezweifeln. – Nebenbei hörte ich auch den Bassist Formes und Dreyschock (Pianist) in Hamburg, die Wagner in Berlin, u.s.w. u.s.w. – Wie gesagt: so viel und vielerlei Schlaues, in Gesang und Instrumental Musik, Tag für Tag, habe ich mein Lebtag nicht vernommen, so viel ich dessen auch zu Gehör bekommen. Leider, bin ich aber, selbst fast ganz außer Thätigkeit im Musikfach gesetzt worden und weiß, seit Weihnachten, kaum mehr wie eine Pianoforte Taste aussieht. – Ich wollte so gern mit der Durchsicht des Orchesters meiner „Todtenfeier“ und der „Ode an die Freude“ fertig werden. – Hier, zum Besten meiner Stiftung für arme Kinder auch3 ein Concert geben. – Aber, eine Menge, mit unter sehr trockner Berufsgeschäfte,4 Schreibereien und ewige Reisen halten mich fern von dem, was ich so gern machen und beendigen möchte. Wenn ich indessen Pfingsten im Rücken habe, hoffe ich freier athmen zu können; will dann für einige Wochen auf meinen prächtig gelegenen Weinberg gehen und einmal, so recht con amore, – ruhen? Nein, das kann ich nicht! – aber, mit Ruhe, wenigstens das Obige ausführen.
Die Instrumentirung der Ode, liegt mir jetzt besonders am Herzen. Bei einer Ausführung vor Weihnachten, beklagten sich nämlich, namentlich die Tenöre: „daß sie befürchten müßten, sich dabei die Schwindsucht am Hals zu singen.“ Ich wußte dies wohl, schon vor dem Druck, wollte aber das freudige „A Dur“ nicht Preis geben, und, als ich diese Ode schrieb, war ich selbst noch ein Tenorist, dem diese Parthie nicht schwierig däuchte. Außer mir gab es der Art noch Mehrere. Jetzt, – fehlt es zwar nicht an Tenoristen, aber, – das „hoch singen können“ fehlt. Darum habe ich vor: die Partitur um- und aus G Dur5 zu schreiben. Dann mag es Jeder nach seiner Kehle vortragen.
Zum Pianoforte habe ich es bereits transponiren lassen. Sie werden mir hoffentlich verzeihen: daß ich auf Ihren lieben Brief vom 9 Januar erst heute antworte. In Ihrer ernsten Beschäftigung, bis zum Charfreitage, wollte ich Sie indessen um so mehr nicht stören, als ich die Schwierigkeiten Ihres schönen Werkes kenne, und den Clavier-Auszug besitze. Bis jetzt hielten mich nun meine Arbeiten und Reisen ab: etwas bestimmtes über mein Abkommen,6 sagen zu können. Jetzt weiß ich: daß ich im Bergischen, Köln und dieser Gegend, nächstens mehrere Geschäfte zu beseitigen habe! Um nun Arbeit mit Genuß zu verbinden, richte ich mich also ein: „daß ich das Musikfest in Düsseldorf, zu Pfingsten, wieder mit anhören kann.“ Ich komme alsdann auf der Hin- und Herreise durch Cassel. Jedenfalls werde ich mir die Ehre geben, Sie auf einer dieser Touren zu besuchen. Dürfte es sich vielleicht so treffen, daß Sie, etwa den 8. oder7 9ten8 May, oder aber d. 19 oder 20 May eine Uebung in Ihrem Cäcilien Verein haben, so würde es mir sehr angenehm sein, derselben beiwohnen zu können. Um indessen9 Gewisheit zu haben, ob ich mich deshalb, auf meiner Hier- oder Herreise in Cassel aufzuhalten habe, dürfte ich Sie wohl ersuchen: „mich durch einige Zeilen bald10 zu benachrichtigen, ob Sie überhaupt an einem der obigen Tage und dann „um welche Zeit“ eine Gesanguebung vornehmen können.
In meinem 8ten Jahre, habe ich, auf einer Reise nach Regensburg, München, Augsburg u.s.w. das wunderherrliche Salzburg mit meinen Eltern besucht. Obgleich über 60 Jahre seitdem11 vergangen sind und ich so viele schöne Gegenden gesehen,12 steht der bezaubernde Eindruck von Salzburg noch so klar vor meiner Seele, daß ich ihn mir stets in’s Gedächtnis zurück gerufen und sehr bedauert habe, seitdem nicht wieder in diese Gegend kommen zu können.
Die Mozartfeier daselbst, im Septbr. d. J. giebt mir nun doppelte Veranlassung, dies nicht länger zu verschieben. Ich werde zugleich Wien mit besuchen, um den hochherzigen jungen Kaiser von Oesterreich, wo möglich, sehen zu können, und meine Frau mitnehmen, um ihr in alten Tagen noch diesen schönen Genuß zu verschaffen; denn, früherhin, so lange mich blos meine Berufsgeschäfte von einem Orte zum andern trieben, konnte sie mich nur höchst selten einmal begleiten.
Sollten Sie sich nicht auch gedrungen fühlen, dieses Haupt-Musikfest mitzumachen? Hierzu würde man doch nicht so grausam sein, Ihnen die Erlaubniß zu versagen.
Neulich habe ich erst vernommen: „daß13 Braunschweig Ihre Vaterstadt ist, und Sie dort noch Ihre nächsten Verwandten und Bekannten haben. Von 1803. bis 1820. habe ich dort die beiden Messen alljährlich besucht, wo ich im Hause am Markt, die 7 Thürme genannt, mein Gewölbe hatte. Daneben habe ich aber dort,14 in der damaligen französischen und späterhin deutschen Oper und bei Musikfesten viel Schönes gehört. Namentlich auch, bei den Wintermessen, selbst viel in Familien gesungen. Die schönste Erinnerung daran, habe ich noch an einen Verein bei Stobwasser. Da gab es 12 herrliche Stimmen und auch eine ausgezeichnete Auswahl von dem was gesungen wurde. Auf meiner jetzigen15 Durchreise von Hannover nach Berlin, wollte ich mich einen Tag in Braunschweig aufhalten um [???] die uns lieb gebliebene Stadt, und die seit 35 Jahren Statt gehabten Veränderungen zu besehen, auch den Kapellmeister Abt zu besuchen; indessen war meine Zeit so gedrängt, daß ich, früh 4 Uhr, nur die Bahnhofsanlage aus dem Fenster des Eisenbahn-Wagens beschauen konnte und mich weiter nach Berlin fortdampfen lassen mußte.
Wahrscheinlich mache ich diese Reise noch einmal, wenn mein Sohn im Herbst nach Hamburg zurückkehrt und dann, hoffe ich, Braunschweig wenigstens 1 o 2 Tage widmen zu können.
Entschuldigen Sie die Länge und flüchtige Schreibweise meines Briefes; aber es muß Alles im Fluge gemacht werden; und dann unterhält man sich dann doch gern ein ½ Stündchen an der Vergangenheit, wenn man einmal im Zuge ist. Mit der vorzüglichsten Hochachtung, zeichnet Ihr ganz ergebenster

Carl Overweg.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Overweg, 09.01.1856. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Overweg, bis 24.01.1859.

[1] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „NAUMBURG / 12 / [4] / 10-11“, links auf dem Adressfeld sowie auf der Rückseite des zusammengefalteten Briefumschlags befinden sich weiterere, stark verwischte Stempel.

[2] „jungen“ über der Zeile eingefügt.

[3] „auch“ über der Zeile eingefügt.

[4] Hier gestrichen: „und“.

[5] „Dur“ über der Zeile eingefügt.

[6] Hier gestrichen: „können“.

[7] „oder“ über der Zeile eingefügt.

[8] Hier gestrichen: „oder“.

[9] Hier gestrichen: „hierüber“.

[10] „bald“ über der Zeile eingefügt.

[11] „seitdem“ über der Zeile eingefügt.

[12] Hier gestrichen: „ist“.

[13] Hier gestrichen: „Sie“.

[14] Hier zwei Buchstaben gestrichen.

[15] „jetzigen“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.11.2022).