Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Scortleben bei Weissenfels d. 4. April 1856

Hochgeehrtester Herr General-Musikdirector!

Das Gefühl der innigsten Dankbarkeit und Verehrung ist es, welches mich stets so glücklich macht an Ihrem Geburtstage meine heißen Segenswünsche Ihnen darbringen zu dürfen. So haben Sie denn durch Gottes Gnade in Gesundheit und Kraft ein Jahr wiederum zurückgelegt, und durch seine Güte sind Sie den lieben Ihrigen und uns Ihren Verehrern bis hieher erhalten. Möge Gott Ihnen die Pforten vieler Jahre mit Freude, Friede und Gesundheit nach seiner Weisheit aufschließen, auf das Sie noch recht viele Früchte Ihres thätigen und rühmlichen Lebens einernteten. Geruhen Sie, Herr Doctor, diesen herzinnigen Wunsch als einen Beweis meiner schuldigen Dankbarkeit aufzunehmen, da mein Geist aus Ihren unsterblichen Meisterwerken nur das zu schöpfen vermag, was jeder(???) außer Ihnen vergeblich sucht. In dem Reiche Ihrer herrlichen Schöpfungen findet meine Seele nur das Verwandte; und schon von meiner Kindheit an bin ich von Ihren Harmonien unwiderstehlich angezogen worden. Wie glücklich war ich daher, ja es wird mir immer unvergeßlich bleiben, als mir endlich der Jahre lang gehegte Wunsch Sie persönlich kennen zu lernen in Erfüllung ging. Ihr liebes Bild ist auch schon meinen Kindern so werth geworden, daß der 5 April der Tag Ihrer Geburt ein hoher Festtag für sie ist, an welchem Ihr wolgetroffenes Bild, das zwischen Mozart und Beethoven über meinem Flügel hängt, mit dem bedeutungsvollen Immergrün stets in Liebe bekränzt wird. So möge dann dieser Tag Sie noch recht oft freudig begrüßen, dies ist mein liebstes Flehn zu Gott unserm himmlischen Vater.
Sehr glücklich hat mich Ihr lieber Brief vom 8. April v. J. gemacht, in welchem Sie mir mittehilten, welche ehrenvolle Auszeichnung in Hannover Ihnen zu Theil geworden ist. Es ist dies abermals ein schlagender Beweis, wie man trotz der großen Posaunen eines Braendel1 zu Leipzig über Wagner, Lißt u. Consorten wohl auch noch Sie den großen Tonmeister u. Virtuosen als unübertrefflich zu würdigen und zu ehren weiß. Darum können Sie, Herr Doctor, mit würdevollem Stolze auf das Zeter u. Mordgeschrei jener kleinen Zwerggestalten herabsehn, die auch nur wenigen Fittungen(???) gleichen, welche auf einer Spitalsuppe heraufschimmern, deren Inhalt doch nichts anderes als Wasser ist. - !
Was nun mein musikalisches Leben jetzt betrifft, so habe ich seit einem Jahre wenig gehört, u. selbst wenig Musik getrieben, da mich in meinem ältesten Sohn zu schwere Krankheitsarth(?) betroffen hat, der leider jetzt noch an Krücken gehen muß. Außerdem habe ich mein ganzes Vermögen an 7,500 Thlr durch die Schlechtigkeit eines Verwandten verloren. In dieser schweren u. theuren Zeit bin ich aber nicht ganz müssig in der Musik geblieben, denn ich habe aus Ihren Oratorien vierstimmig für gemischten Chor viele Sachen als Responsorien für den liturgischen Gottesdienst hier in Preußen arrangirt, von denen der größte Theil in den hiesigen Kirchen bei dem Gottesdienste schon gesungen wird. Sehr gefällt überall aus „des Heilands letzte Stunden der Gesang: „Wir drücken dir die Augen zu.“ Ich habe es in 4/4 Takt gesetzt u. mich streng an die Partitur gehalten, so daß es nur reiner vierstimmiger Satz durchgängig geworden ist. In meiner Kirche haben wir diesen Chor am Charfreitag bei der Liturgie aufgeführt und zwar mit sanfter Orgelbegleitung nach der Begleitung in der Partitur; der Eindruck war gewaltig. Außerdem habe ich selbst viele Sprüche der heiligen Schrift für gemischten Chor zum Gebrauch bei der Liturgie componirt u. in meiner Kirche eingeführt. Sehr gefreut habe ich mich, daß unser König mir ein höchst freundliches Danksagungs-Schreiben für die Composition des beifolgenden Gedichts unter dem 27. Nvbr. v. J. hat zukommen lassen. Ich bin gesonnen das Lied mit Orchester-Begleitung herauszugeben, da es als Volkslied hier bei Festlichkeiten schon überall gesungen wird, u. ich von Berlin aus zur Herausgabe schon aufgefordert worden bin. - Im Januar d. J. ward bei meinem kurzen Aufenthalt in Rudolstadt mir auch ein recht schöner Genuß zu Theil. Ich hörte nämlich von Ihrem frühern Schüler Brand eine eigene Composition für Violine mit Orchester vortragen. Ton und Vortrag war meisterhaft, und die Composition zeigte von vielem Gefühl u. Talent. Möchte dieser treffliche Mensch doch bald in eine bessere Stellung eintreten können, da Nahrungssorgen bei seiner starken Familie u. den jetzigen theuren Zeiten ihn sehr danieder drücken. Auf mein Zureden wil Brandt sehen ob er einen Verleger für sein Concert-Stück findet.
In Ihrem mir so liben2 Brief vom vorigen Jahr, haben Sie, Herr General-Musikdrector, mir die höchst freundliche Zusage gemacht, daß Sie auf meine Bitte das Vaterunser nebst den Abendmahlsworten mit Orgelbegleitung in Musik setzen wollten. Diesen meinen lang gehegten Wunsch erfüllt zu sehen, macht mich sehr glücklich; da ich der festen Ueberzeugung bin, daß außer Ihnen Niemand in unsern Tagen das Vaterunser u. die Einsetzungsworte ihrem Geiste u. Sinne nach componiren kann. Für die evangelische Kirche werden Sie sich ein bleibendes Denkmahl setzen. Sollte es mir in diesem Jahr und zwar den Tag nach den Pfingstfeiertage möglich sein nach Cassel zu reisen, so werde ich mir erlauben meinen Dank nochmals persönlich Ihnen darzubringen. In der Hoffnung Sie, Herr Doctor, recht bald einmal wieder zu sehen, habe ich die Ehre mit dem herzlichsten Gruße mich nennen zu dürfen

Ew. Hochwohlgeboren
ganz ergebener dankbarer
Heinrich Weber Pfarrer.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Weber, 08.04.1855. Spohr beantwortete diesen Brief am 12.04.1856.

[1] Franz Brendel war Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik.

[2] Sic!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.12.2017).