Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Meiningen, d 4. April 1856.

Hochgeehrter Herr Generalmusikdirector!

Sie haben mir durch Ihre gütigst geliehenen Stimmen, Partitur und Clavierauszug zu den letzten Dingen, welche anbei mit verbindlichstem Dank zurückfolgen, eine große Gefälligkeit erwiesen, da Sie mich dadurch in den Stand setzten, den hiesigen Kunstfreunden einen seltenen Genuß zu verschaffen.
Obgleich bey den früheren Aufführungen der Schöpfung, der Jahreszeiten, des Paulus etc. sich warme Theilnahme für classische Musik hier kund gab, so war bey den letzten Dingen die Begeisterung und Aufmerksamkeit bey Mitwirkenden und Zuhörern eine ungleich Größere. Unser Herzog, der so auf meinen Antrag in der bezeichneten Weise genehmigte, war höchst überrascht und theilte mir seine vollste Zufriedenheit mit. Zugegen waren außer ihm die Frau Herzoginn, Prinzessin Auguste und Frau Landgräfin von Philippsthal so wie ein zahlreiches Publikum von nah und fern. Die Besetzu0ng des Orchester bestand in 6 ersten, 5 zweiten Geigen, 3 Violen, 3 Cello’s, 2 Contrabässe und den vorgeschriebenen Blaßinstrumenten; der Chor gegen 100 Stimmen. Wie Jedermann von den erhabenen Styl, den kunstvoll bearbeiteten Fugen, göttlichen Melodien und himmlischen Harmonien ergriffen war, davon zeigte eine allgemeine Todtenstille, und die erhöhte Stimmung, in welche sich das ganze Publikum bey der ersten Ouverture versetzt fühlte, währte bis zum Amen ununterbrochen fort.
Der Vorstand meines Vereins hat sich außerordentlich gefreut, daß uns durch Ihre gütige Unterstützung das Glück zu Theil wurde, Ihre herrliche Tonschöpfung auch hier zu Gehör zu bringen.
Mit größter Verehrung wird Ihr Weltberühmter Name um auch in unsern kleinem Meiningen genannt, wo leider Ihre Vokalmusik bisjetzt unbekannt geblieben.
Möge Ihr Genius noch recht viele Jahre zum Heil unsrer schönen Kunst wirken und der Himmel Ihnen ein langes und glückliches Leben schenken!
Ihrer ferneren Wohlgewogenheit empfiehlt sich mit innigster und höchster Hochachtung Ihr
dankbar1 Schüler
Friedrich Nohr.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Nohr an Spohr, 26.02.1856.

[1] Sic!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.02.2022).