Autograf: Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.Hass. 287

Sr Wohlgeboren
Herrn GeneralMusikdirektor
Dr L. Spohr
in
Cassel.

franco.1


Frankfurt a/m d 1t März 1856.

Hochgeehrtester Herr General-Musikdirektor!

Ihre freundliche Erwiderung eines frühern Schreibens von mir, die Missa sol. von Beethoven betreffend, macht mich kühn, Ihnen abermals eine Mühe aufzubürden. –
Diesmal ist es eine Meinungsverschiedenheit zwischen Herrn Schnyder von Wartensee, welche mir in dem fraglichen Punkt Ihre Ansicht höchst schätzbar machen würde,
Kürzlich führte ich die Schöpfung mit meinem Verein und dem Theaterorchester auf.2 Herr Schnyder war entzückt von der Aufführung,3 behauptete indessen, ich habe bei einer Stelle das Tempo zu geschwind genommen; er meinte damit die erste Tenorarie, a dur, Andante ₵.4 Nun schwanden pp – Ich markirte, ungeachtet des vorgeschriebenen ₵, 4 Taktschläge, und nahm die Viertel ♩ = 116. – Ich habe an andern Orten allerdings bei dieser Nummer das Tempo schon langsamer gehört, konnte aber ein solches nicht mit meiner Auffassungweise vereinbaren. Mir kam alles zu schleppend vor, namentlich die Violinfiguren, und vollends die Stelle: „der erste Tag entstand“, welche in langsameren Tempo schwunglos, wie im Paradisgarten, dahin schlich. Ebenso die Stelle „Verwirrung weicht“, kommt mir in langsamerem Takt höchst matt vor. –
Es ist zwar keine geringe Aufgabe, ein mit Besonnenheit ergriffenes, zu bester Gestaltung durchgrundenes, und seit lange streng eingehaltenes Tempo, mit einem andern, gewissermaßen activirten, vertauschen zu müssen – noch schwerer aber ist es, den Gedanken an eine mögliche Gefühls- und GeschmacksVerirrung mit sich herumtragen zu müssen. Aus diesem letztern Grund nun, möchte ich Sie recht freundlichst und Ihre gefällig Mittheilung ersuchen, wie Sie gewohnt sind, das besprochene Tempo zu nehmen?
Eine andre Frage sey mir noch erlaubt.
Was halten Sie von dem vorgeschriebenen piano im dritten Takt des Andante vom Schlußchor?5 Mir kommt das gerade nicht schön vor, so ungefähr, wie weiß neben schwarz. Dem Text nach, der eine Steigerung enthält, sollte man billig auf eine Steigerung des musikalischen Ausdrucks vermerken dürfen.
Sehr dankbar würde ich Ihnen sein, wenn Sie eine gefällig Antwort mir umgehend möchten zukommen lassen, da in nächster Woche auf allgemeines Verlangen das Conzert wiederholt werden soll, und ich doch so gerne vorher Ihre Meinung wissen möchte. –
Ich habe hier rechtes Glück mit meinen Vereinkonzerten, Zudrang ist ein so ungewöhnlicher, daß wir hier keinen Saal besitzen, der die hörbegierige Menge zu fassen vermöchte. Bei dem letzten Conzert wurden wenigstens 200 Menschen zurückgewiesen, denen man keine Karten mehr verkaufen konnte – Die Missa solemnis hat seiner Zeit ebenfalls außerordentliches Glück gemacht, und ich mußte sie auch Anfangs dieses Winters 2 mal aufführen. –
Vielleicht wird uns einmal die Ehre, Sie bei einem unserer Conzerte anwesend zu sehen. Jedenfalls wüde ich mich außerordentlich glücklisch schätzen, bald einmal mündlich mit Ihnen mich6 unterhalten zu können.
Verzeihen Sie, daß Sie so sehr von mir belästigt sind, es ist eben nicht meine Schuld, daß ich Sie so sehr hochschätze und auf Ihr Urtheil so viel Gewicht legen muß. Sie haben eben die schlimmen Folge einer allgemeinen Verehrung zu tragen. –

Mit aller Ergebenheit
Ihr
F.W.Rühl
Musikdirektor.

Autor(en): Rühl, Friedrich Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Schnyder von Wartensee, Franz Xaver
Erwähnte Kompositionen: Beethoven, Ludwig van : Missa solemnis
Haydn, Joseph : Die Schöpfung
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen: Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1856030144

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Rühl, Mai 1855. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Rühl an Spohr, 07.08.1856.

[1] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „FRANKFURT / 1 / MÄR. / 1856 / [3-4]“, auf der Rückseite des zusammengefalteten Briefumschlags der stark verwischte Stempel „CASSEL / [???] / [???] / [???]“.

[2] Zur Aufführung vgl. W., „Haydns Oratorium: Die Schöpfung“, in: Didaskalia 12.03.1856, nicht paginiert.

[3] Hier gestrichen: „und“.

[4] Vgl. Joseph Haydn, Die Schöpfung. Ein Oratorium […], Wien 1800, S. 13-19.

[5] vgl. ebd., S. 283.

[6] „mich“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2023).