Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sondershausen, am
5. Januar 1856.

Mein hochverehrter, innig geliebter Herr!

Das neue Jahr, zu dem ich Ihnen herzlich gratulire, ist herangebrochen, ohne einen längst gefühlten Wunsch, Ihnen in wenigen Zeilen von mir und unsern musikalischen Zuständen Nachricht zu ertheilen, erfüllt zu haben; mit Freude thue ich daher dieses jetzt in meiner Ferienzeit. Wiewohl auch in musikalischer Beziehung die Neuzeit bei uns ihre Bestrebungen geltend gemacht hat, R. Wagner etc. ein hohes Ansehen zu verschaffen und ihnen einen Preis zu ertheilen, so wird auch auf der andern Seite wieder das Claßische recht gefördert. Von Ihren gediegenen Kunstproductionen haben wir neuerdings Jessonda, Ihre C Dur Symphonie1 aufgeführt, der sehr gediegene Clarinettist Abendroth hat uns Ihre Clarinettenconzerte vorgetragen und ich endlich habe Ihr 15. Violinconzert2 und das Soloquartett in H Moll in dem noch immer bestehenden Musikverein besser Quartettverein gespielt. Bei dem Vortragen des Conzertes habe ich eigentlich so recht eingesehen, was Sie verehrtester Herr in dem Gebiete der Kunst geleistet, wie Sie so recht würdiglich den Herrn Haydn, Mozart und Beethoven zu Seite stehen und ein Berufener des Herrn sind, zu dessen Ehre Sie schreiben. Ich war aber auch damals, als ich meine Aufgabe gelöst(?), mehrfach gerührt und dachte lebhafter als je an den edlen Menschenfreund, der es mir vor 10 Jahren mit so vieler Liebe und Uneigennützigkeit einstudierte. So eben studire ich Ihr 7. Conzert3 und glaube, dasselbe nach Verlauf eines halben öffentlich vortragen zu können. Gründliches Studium, völlige Überwindung alles Technischen, ein reines Gemüth verlangen alle Ihre Compositionen, sollen sie einem Eindruck beim Publikum zurücklaßen; doch Heil und Glück dem der sich mit ihnen befreundet und nicht den sogenannten Modesächelchen huldigt, er hat seinen Lohn nicht dahin – Mein Wirkungskreis in der Schule hat ich in totem4 etwas verändert, als ich seit 2½ Jahren den Gesangunterricht in den 4 obern Claßen unserer Anstalt ertheile und dagegen andere Lehrstunden verloren habe. Recht ernst beschäftigte mich gleich der Gedanke, diesem höchst wichtigen Unterrichtszweige die Sorgfalt zu widmen, welche ihm gebührt, und siehe da, meine Bemühungen sind nicht fruchtlos geblieben, indem ich wenigsten meinen Schülern das richtige Bild von der hohen Bedeutung der Kunst5 verschafft und bei ihnen den Sinn für dieselbe geweckt zu haben glaube. So habe ich denn im Laufe des verfloßenen Jahres bei Schulfeierlichkeiten eine Aufführung mehrer classischer Stücke zu Stande gebracht, und das hohe Weihnachtsfest bereitete ich durch eine Hymne von Haydn (C Dur)6 das immergleich schöne Salve Regina von Hauptmann und durch eine 8stimmige Motette von Seb. Bach vor. Auf das Auditorium, größentheils aus Lehrern bestehend, sind meine 140 Sänger (darunter etwa 707 Sopra., 30 Alt. 20 Teno., 20 Bass) machten diese Gesänge einen weihnachtlichen Eindruck und wird dieses für mich ein Sporn sein, fortan die Gemüther der Jugend durch diesen Unterrichtszweig zu veredeln. Mein lebhaftester Wunsch ist es mein verehrtester Herr, wie Sie wohl denken können sich von Ihren Compositionen in diesem Felde Etwas zur Aufführung zu bringen, und bitte ich Sie daher recht herzlich, mir einige derselben, die sich für meine Zwecke eignen, gütigst mitzuschreiben und mir überhaupt Winke zur Hebung meines Sängerchors zu ertheilen, die ich aus so erfahrenem Munde mit dem größten Danke entgegennehme.
So leben Sie den für heute wohl, mit [dem] Wunsche, daß Sie das [???] der Welt noch viele Jahre in Ihrem Wirken segne, unterzeichne ich mit gewohnter Verehrung und dankbarer Liebe

Ihr treuverb.8 O.L. Carl Haessler
Oberlehrer an der Realschule
und Mitglied der fürstl. Hofkapelle.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Haessler an Spohr, 31.12.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Haessler an Spohr, 10.04.1858.

[1] Irdisches und Göttliches im Menschenleben.

[2] Op. 128.

[3] Op. 38.

[4] Lat.: „im Ganzen“.

[5] Hier gestrichen: „und bin“.

[6] Hier ein Wort gestrichen.

[7] „70“ über gestrichenem „60“ eingefügt.

[8] Wohl Abk. f. „treuverbundenen“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.07.2020).