Autograf: Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms.Hass. 287
Hochverehrtester Herr!
Mit dem unter meiner Leitung stehenden Rühl’schen GesangVerein werde ich in einigen Wochen als letztes diesjähriges AbonnementsConcert die Missa solemnis von Beethoven zur Aufführung bringen.1 – Da mir bekannt ist, daß dieses erhabene Werk schon unter Ihrer Leitung aufgeführt wurde, so erlaube nun, Ihre Ansicht über einige Punkte darin einzuholen.
1.) Zuerst würde mir wünschenswerth sein, zu wissen, ob Sie bei dem Eintritt des 3/2 Taktes im Credo (Seite 163 der gest. Part.2) die Bewegung der Taktzeiten ebenso geschwind erhalten haben möchten, wie in dem vorhergehenden ₵ Tempo? – (der gleiche Fall kommt im Kyrie vor, wo der ₵ Takt ebenfalls in 3/2 übergeht, und wo die Bewegung unuzweifelhaft die nämliche bleibt.)
2.) Halten Sie die Bezeichnung: Grave (Seite 1883) nun als auf die Tonstärke und Vortragsweise sich beziehend, gleichwie das vorhergehende: scherzando – oder sind Sie der Ansicht, daß mit einem Wort eine langsamere Taktbewegung angedeutet werden solle? Letztere Anschauungsweise kann mir nicht einleuchten. Ist sie dennoch die Ihrige, dann bitte mir gefälligst den Punkt vergeben zu wollen, wo der Rückgang in das unverzügliche Tempo Statt zu finden habe.
3.) Würden Sie es als eine große Beeinträchtigung des Werks erkennen und für einen Mangel an Pietät gegen Beethoven halten, wenn man einige der allzuhoch gesetzten Töne, die ohndem durch Blasinstrumente unterstützt werden, in tiefere Lage versetzt, namentlich da, wo die Chormasse nicht gerade eine melodische Mission zu erfüllen, sondern mehr Harmonieverstärkung zum Zweck hat? Mein ganzer Chor ist ungefähr 100 Personen stark, der Sopran gegen 30. Von diesen können 14 das hohe b und h mit Leichtigkeit singen, und von diesen dürfte wohl möglicherweise noch eins und das andere verhindert sein, in dem Concert mitzuwirken. Daher liegt es meines Erachtens vielleicht im Interesse der Composition, solche, ohne erheblichen Grund so hoch gesetzte,4 Stellen in Tonlagen zu bringen, die von Allen auszuführen sind. – Selbst an einer Stelle möchte ich den melodischen Gang abändern, und zwar Seite 1675, wo ich den Sopran, bei dem Eintritt der Gefährten von allen singen lassen zu können, folgendermaßen setze
die Stelle qui sedes ad dexteram patris (S. 68)6 liegt für den Sopran über alle Maßen fatal. Würden Sie betreffs derselben dazu rathen, den Sopran zu theilen und etwa so singen zu lassen:
oder würden Sie nachstehender Notirung den Vorzug geben?
die Stelle ist zu wichtig, als daß man sie nur von wenigen Sopranen dürfte singen lassen, und so vortrefflich ein Chor auch singt und so sehr ich die Sänger zu animiren vermag, so ist es mir doch nicht möglich, die Stimmen höher als ihr Umfang hinaufzutreiben. Wenn man an vielen Orten und selbst bis jetzt noch nicht gewagt hat, die Messe, aus Furcht vor der hohen Tonlage zu singen, so, hat man sehr Unrecht gehabt, denn sie birgt in sich zahlreiche Schönheiten der sublimsten Art, man muß vielmehr zu vermitteln suchen; ebenso sonderbar würde es sein, wenn man eine, oder die andere Symphonie nicht mehr machen wollte, weil darin das tiefe C auf dem Contrabaß geschrieben ist, oder den Wasserträger7, weil darin ein tiefes wichtiges D auf demselben Instrument vorkommt. –
Mit recht großem Dank würde ich es erkennen, wenn Sie, hochgeehrtester Herr, mir Ihre Ansichten über die von mir berührten Punkte wollten zukommen lassen, und sehr würde ich mich verpflichtet fühlen, wenn Sie geneigt sein möchten, mir noch einen oder den andren Wink über die Aufführung des Werkes geben zu wollen. – Das Urtheil eines so großen und vielerfahrenen Meisters, als welchen ich Sie verehre, hat bei mir zu großes Gewicht, als daß ich nicht recht sehr darum bitten sollte.
Genehmigen Sie die Versicherung meiner größten Hochachtung, mit der ich unterzeichne
Ihr
ergebenster
FWRühl
Frankfurt a/m d. 26. April 55.
Autor(en): | Rühl, Friedrich Wilhelm |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | |
Erwähnte Kompositionen: | Beethoven, Ludwig van : Missa solemnis Cherubini, Luigi : Les deux journées |
Erwähnte Orte: | |
Erwähnte Institutionen: | Rühl'scher Gesangverein <Frankfurt am Main> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855042644 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Rühl, 03.03.1839. Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.
[1] Eine sehr detaillierte Kritik der Aufführung am 16.11.1855 gibt nicht gänzlich unvoreingenommen A[nton] Schindler, „Aus Frankfurt am Main“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 1 (1856), S. 185-190, hier S. 186-190; vgl. auch „[Beethovens Missa solemnis]“, in: Signale für die musikalische Welt (1855), S. 397.
[2] Ludwig van Beethoven, Missa […] op. 123, Mainz 1827, S. 163.
[3] Ebd., S. 188.
[4] Komma in der Vorlage!
[5] Ebd., S. 167.
[6] Ebd., S. 68.
[7] Les deux journées von Luigi Cherubini.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2023).