Autograf: letzter Nachweis siehe Druck 2
Druck 1: Briefe von und an Joseph Joachim, hrsg. v. Johannes Joachim und Andreas Moser, Bd. 1, Berlin 1911, S. 281f.
Druck 2: Autographen darunter eine Sammlung zur Geschichte der deutsch-schweizerischen Literatur der Goethezeit. Auktion am 28. Oktober 1955 in Marburg (= Katalog Stargardt 524), Marburg 1955, S. 76 (teilweise)
Cassel den 23sten April 1855
Hochgeehrter Herr Concertmeister,
Indem ich Ihnen beykommend Partitur und Orchesterstimmen Ihrer Ouverture zu Demetrius zurücksende, erinnere ich mich Ihres Wunsches, daß ich Ihnen meine aufrichtige Meynung darüber mittheilen möge; ich werde daher im Folgenden getreu den Eindruck schildern, den sie auf mich gemacht hat. Sie wurde am vorigen Sonnabend1 in unserm letzten Abonnementconcerte zum Schluß des ersten Theils aufgeführt und war auf das geneuest eingeübt. In einer Vorprobe, die ich stets für die Sinfonie und Ouverture zu unsern Concerten mache, wurde Ihre Ouverture erst im Zusammenhange, dann in den schwierigen Absätzen zwischen den Buchstaben im Einzelnen, und zuletzt nochmals im Zusammenhange durchgeübt, und dann in der Generalprobe am Concerttage noch zwei Mal wiederholt. Die Aufführung war daher eine sehr genaue, mit allen vorgeschriebenen Nuancen von Stärke und Schwäche. Der erste Eindruck in der Probe war ein befremdender auf mich; doch bey öfterer Wiederholung fand ich die Form heraus, und freuete mich der Phantasie, mit der das Ganze entworfen ist. Mit den Härten in der Harmonie und zahlreichen Übelklängen habe ich mich aber bis zuletzt bey der Aufführung nicht befreunden können! Der erste dieser Übelklänge findet sich schon in dem lange Vorhalte vor dem Grundton in den Saiteninstrumenten im 4ten Takt der Introduzion; der sich dann durch die ganze Ouverture fortspinnt, besonders aber pagina 13, im 2ten Takt als Vorhalt vor der Terz wahrhaft Ohrzerreißend wird. In wiefern solche Härten Bezug auf das Trauerspiel haben, welches ich nur in dem Schiller’schen Fragment2, nicht in der neuen Bearbeitung des Stückes vom jungen Grimm kenne3, kann ich zwar nicht wissen, befreunden kann sich aber mein Ohr, welches eine lange Reihe von Jahren nur an Wohlklänge Hayn’scher, Mozart’scher und Beethoven’scher Musik (früherer Periode) gewöhnt worden ist, damit nun in meinen alten Tagen nicht mehr! Eine Ausnahme macht jedoch der Vorhalt vor der Quint im Thema des Allegro’s, der leidenschaftlich ist, ohne das Ohr zu beleidigen. Nur kommt er, für meinen Geschmack etwas zu oft hintereinander vor. – Eine Periode Ihrer Ouverture, die ich sehr liebgewonnen habe, und die auch im 2ten Theil einen Takt vor I wieder kehrt, beginnt pag: 26 und dauert bis zum Schluß des 1sten Theils pag: 32. – In dieser Weise wünschte ich mir die ganze Ouverture! – Eine andere Periode, die mir wegen ihrer phatastischen Erfindung auch sehr gefallen hat, ist die pag: 42 im 8ten Takt beginnende und den vorhergehenden Gesang fortspinnende. Nur kommen beym Buchstaben G, wo die Vorhaltsfigur wieder beginnt, von Neuem gar zu ohrenpeinigende Härten vor, und es dauert das pp ein wenig zu lange, bis es wieder zu Stärke erwächst. Auch das Andantino pag: 67 hat mir gut gefallen, so wie dann der langsame Schluß pag: 71. Einen ähnlichen Eindruck, wie auf mich schien die Ouverture auch auf einige Musiker unseres Orchesters, die Komponisten sind, zu machen; unser Concertpublikum jedoch blieb, wie ich Ihnen nicht verhehlen will, theilnahmslos, obgleich ein Theil davon sich für die allerneueste Zukunftsmusik, wenigstens die Wagner’sche, ziemlich interessirt. Sie würden diesen Theil auch ohne Zweifel für sich gewinnen können, wenn Sie bey Ihrer phantasievollen Erfindung etwas wohlklingender, und im Periodenbau etwas übersichtlicher schreiben wollten!4
Die Musik soll, wie mir scheint, vor allen Dingen schön, edel und wohlklingend sein, und nur so viel Dissonanzen und Übelklänge enthalten, wie nöthig sind, um den Wohlklang noch mehr hervorzuheben. Mehr Dissonanzen, als z.B. Don Juan enthält, sind sicher nicht nöthig, um alle möglichen Leidenschaften naturwahr darzustellen. Alles was darüber hinausgeht, scheint mir vom Übel! – Ich werde Ihren folgenden Arbeiten mit großem Interesse entgegen sehen, und mich herzlich freuen, wenn ich bald etwas darunter finde, was mit meinen Ansichten in der Kunst übereinstimmt.
Mit vorzüglicher Hochachtung ganz
der Ihrige
Louis Spohr
Autor(en): | Spohr, Louis |
Adressat(en): | Joachim, Joseph |
Erwähnte Personen: | Grimm, Hermann Wagner, Richard |
Erwähnte Kompositionen: | Joachim, Joseph : Demetrius Mozart, Wolfgang Amadeus : Don Giovanni |
Erwähnte Orte: | Kassel |
Erwähnte Institutionen: | Hofkapelle <Kassel> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855042314 https://bit.ly/ |
Dieser Brief ist vermutlich die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Joachim an Spohr. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Joachim an Spohr, 07.06.1855.
[1] 21.04.1855.
[2] Zeitgenössischer Druck z.B. Friedrich Schiller, „Demetrius”, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart und Tübingen 1838, S. 247-313.
[3] Hermann Grimm, Demetrius, Leipzig 1854.
[4] Zu Joachims Reaktion auf diese Kritik vgl. Joseph Joachim an Hermann Grimm, 26.04.1855, in: Briefe von und an Joseph Joachim, Bd. 1, S. 283ff., hier S. 284f.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (09.09.2016).
Unser Concertpublikum […] blieb […] theilnahmslos, obgleich ein Theil davon sich für die allerneueste Zukunftsmusik, wenigstens die Wagner‘sche, ziemlich lebhaft interessirt […] Die Musik soll […] vor allen Dingen schön, edel und wohlklingend seyn, und nur so viel Dissonanzen und Übelklänge enthalten, wie nöthig sind, um den Wohlklang noch mehr hervorzuheben [...]