Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Dep. 1 Briefe 05
Inhaltsangabe 1: Bernhard Scholz, Verklungene Weisen. Erinnerungen, Mainz [1911], S. 88
Inhaltsangabe 2: Autographen aus verschiedenem Besitz. Darunter ein Teil des Nachlasses der Fürstin Karoline Wittgenstein. Auktion vom 11. bis 13. November 1965 in Marburg (= Katalog Stargardt 574), Marburg 1965, S. 155

Cassel den 14ten April 1855.

Hochgeehrter Herr,

Eine Reise nach Hannover1 und angehäufte Arbeit in der Charwoche haben mich verhindert, Ihnen früher als heute auf Ihren lieben Brief zu antworten.
Die überschickten Lieder habe ich mit vielem Interesse durchgesehen und durchgesungen; sie geben Zeugniß von einer achtungswerthen Begabung für diese Kunstgattung, und von einer, für einen Dilettanten bereits recht vorgeschrittenen Kunstbildung. Ich kann Ihnen daher nur rathen, in dieser Weise fortzufahren, dabey aber auch jede Gelegenheit zu benutzen, um Ihre theoretischen Kentniße in der Kunst zu erweitern. Denn es lassen sich an diesen Lieder noch allerley Ausstellungen machen, sowohl in Bezug auf die musikalische Form, und die Behandlung des Textes, wie auch in Bezug auf die Corektheit der Harmoniebegleitung. Ich will dieß durch einige Bemerkungen belegen. Das 1ste Lied von Göthe, so oft es auch komponirt ist, eignet sich nicht dazu, weil es in keine entsprechend breite Form zu bringen ist, ohne daß man den Text oft wiederholt; und dieß ist bey Liede unstatthaft mit sehr wenigen Ausnahmen. So auch bey diesem Liede, wo höchstens der Schluß ,balde ruhst auch du“ einmal wiederholt werde dürfte. Bey der letzten Endung der Singstimme ist eine Unreinheit in der Harmonie, (Octaven in der Oberstimme und tiefsten Mittelstimme,) die leicht zu vermeiden ist, wenn die Singstimme so abgeändert wird, wie ich es mit Rothstifft angedeutet habe. In Bezug auf Textbehandlung noch die Bemerkung: daß der zweimalige Sprung in die Höhe, bey den Worten „ist Ruh‘, dem Sinn des Textes nicht entspricht, und eher geeignet ist, bey dem Höhrer das Gefühl von Unruhe zu erwecken. - Das 2te Lied hat mir sehr gefallen; ich halte es nebst dem letzten für 2 Stimmen für die beyden gelungensten. Im 3ten Liede sind mehrere harmonische Härten, die leicht hätten vermieden werden können, aber besonders enthält der 7te Takt von dem Schluße mit der Stimme d und der Harmonie in der Begleitung vom Dreiklange von c, einen Übelklang, der meinem Ohr höchst zuwieder ist. In Nro 4 wäre die Textwiederholung „könnt ich durchziehen“ leicht zu vermeiden gewesen. Di darauf folgende „für Einen“ ist aber angemessen. Über die Nummern 5, und 6, habe ich nichts zu bemerken. In Nro 7 ist aber im 5ten Takt wieder eine Unreinheit in der Harmonie, Octaven zwischen Oberstimme und Baß, die sich leicht, wie ich mit Röthel angedeutet habe, verbessern läßt. In dem Marienliede, Nro 9, ist für ein, an symetrische Rhytmen gewöhntes Ohr, im Vorspiele ein Takt zu viel, der sich am besten vermeiden ließe, wenn der 3te und 4te Takt in c moll umgeschrieben werden, wie ich es mit Röthel angedeutet habe.
Sie sehen aus diesen Bemerkungen, daß ich Ihrem Wunsche einer aufrichtigen Beurtheilung nachgekommen bin, zugleich aber auch, daß ich mich für Ihre Arbeiten interessire, weil sie Talent verrathen, und in der Folge Ausgezeichnetes versprechen.
Hochachtungsvoll
[...]2

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Scholz, Bernhard
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Scholz, Bernhard : Lieder, Sgst Kl, WoO
Erwähnte Orte: Hannover
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855041416

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Scholz an Spohr, 29.03.1855. Scholz beantwortete diesen Brief am 26.04.1855.

[1] Vgl. Spohr an Moritz Hauptmann, 13.04.1855; Tagebucheinträge Marianne Spohr, 28.03.-01.04.1855; Louis Spohr, Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 368ff.

[2] Textverlust durch Ausschnitt der Unterschrift.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.05.2020).