Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck 1: Louis Spohr, Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 368ff.
Druck 2: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 157-160
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff

((Cassel den 13ten April 55.
 
Geliebter Freund,
 
Ihr lieber, herzlicher und interessanter Brief zu meinem Geburtstage hat mir große Freude gewährt, und ich sage Ihnen den innigsten Dank dafür. Es ist mir, der ich mich bey dem jetzigen Kunsttreiben immer einsamer und verlassener fühle, ein wahrer Trost unter den ältern Künstlern noch Gesinnungsgenossen zu finden, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß, so lange diese noch leben und wirken, eine Umkehr zum Bessern noch möglich sey. Je mehr ich von der allerneuesten Musik kennen lerne, jemehr wird sie mir zuwider. Dieß gilt nicht bloß von der der unbegabten jüngsten Komponisten, sondern selbst von der Wagner‘schen. Ich hatte in Hannover Gelegenheit wieder mehrere Nummern aus Lohengrin, die mir noch unbekannt waren, zu hören1, kann aber nicht sagen, daß sie mich im mindesten angezogen hätten, obgleich sie sorgfältig eingeübt, und sehr stark besetzt waren. Freilich paßt diese Musik am allerwenigsten für Concerte, und wird mit der Handlung verbunden mehr Interesse erregen.))
Die kleine Excursion nach Hannover hat uns, meiner Frau und mir, viel Vergnügen gewährt. Ich spielte Quartett beym König<, und es schien mir, als reiche seine Kunstausbildung so weit, um an dieser Musikgattung Geschmack zu finden>.2
Auch spielte ich <mein Quartett (E-moll)> in einer Matinee, die die Kapelle veranstaltet hatte, um mir 2 meiner Kompositionen zu hören zu geben, die sie sehr sorgfältig eingeübt hatte. Es waren dieß das 7te Violinconcert, ganz meisterhaft von Joachim vorgetragen, und das 1te Doppelquartett, von welchem Kömpel die erste Stimme des 1ten und Joachim die des zweiten Quartetts übernommen hatte. Auch dieß wurde in höchster Vollendung executirt. Am 2ten Tage gab mir die Kapelle nach einer Vorprobe meiner Sinfonie: „Irdisches und Göttliches im Menschenleben“ ein Festdiner, welches 5 Stunden dauerte, und überreich an Reden, Gesängen und Toast‘s war. Im höchsten Grade erschöpft, muste ich Abends in einer Musikparthie bey meinem alten Freunde Hausmann noch 2 meiner Quartetten spielen und kam, wie auch die vorigen Abende erst um 2 Uhr zur Ruhe. Am 3ten Tage war Vormittags die Generalprobe und Abends das Concert zum Besten der Armen, wozu mich der König hatte einladen lassen. Ich dirigirte die erste Hälfte, bestehend in der Ouverture und dem Duett aus Jessonda und meiner Sinfonie. Alles dreies wurde meisterhaft executirt, besonders die Sinfonie, welche ich noch nicht so gut gehört habe, selbst nicht in London. Das kleine Orchester, von Joachim vorgespielt, bestand aus der Elite der Kapelle, und war sehr vortheilhaft auf dem Theater placirt, so daß es sich sehr gut vom großen sonderte. Dieses bestand aus 20 Violinen, 6 Violen, 5 Violoncells und 5 Kontrabässen, und contrastirte daher schon durch seine imposante Kraft in dem sonoren, und nicht übermäßig großen Theater, mit dem Soloorchester auf der Bühne. Der Efekt war sehr befriedigend. Das Orchester ist aber auch in der That sehr ausgezeichnet, besonders in den Saiteninstrumenten. Die Harmonie zählt zwar ausgezeichnete Virtuosen, ist aber im Ensemble weder so gleich im Ton, noch so rein in der Intonation wie die unsrige. Den 2ten Theil des Concerts dirigirte Kapellmeister Fischer. Er bestand in der Ouverture zu Euryanthe, dem Beethovenschen Violinconcert mit neuen Joachim‘schen übermäßig langen, sehr schweren, aber undankbaren Cadenzen und den bereits genannten Nummern aus Lohengrin. Das Concert war überfüllt, und muß der Armenkasse eine bedeutende Summe eingetragen haben.3 – Am andern Morgen, vor der Abreise, überreichte mir die Kapelle durch eine Deputation der ausgezeichnetsten Mitglieder einen Taktirstab, der so reich und geschmackvoll ist, wie ich noch keinen ähnlichen gesehen habe. Wie ich später erfuhr, hat ihn der König machen lassen, und der Kapelle zur Uebergabe an mich geschenkt. Er besteht aus einer zierlichen cannelirten Säule von Elfenbein, unten mit einem goldenen Griff, reich mit farbigen Steinen besetzt, und oben mit einer ähnlichen goldnen Verzierung, in einem Knopf endend, ebenfalls mit kleinen Steinen besetzt. Das Ganze ist äußerst geschmackvoll (an dem selbst Wolff nichts auszusetzen weiß,) und hat an dem Griff die Inschrift in erhabenen Buchstaben: „Die Königl. Hannoversche Kapelle dem Generalmusikdirector Dr. Spohr am 31sten März 1855.“4 Der Kurfürst, der sich das Kunstwerk zur Ansicht holen ließ, ist, wie mir der Intendant erzählte, sehr aufgebracht gewesen, daß es in der Inschrift nicht heißt „Dem Kurfürstlichen G.M.D." und hat gemeint, wer wisse nun in der Zukunft, daß das sein G.M.D. gewesen sey?((!
Was haben Sie für den Sommer für Reisepläne? Haben wir keine Aussicht Sie und die lieben Ihrigen hier zu sehen? Meine Frau und ich werden nur auf kurze Zeit abwesend von hier seyn, denn wir denken nur einen kurzen Ausflug nach Hamburg zu machen, wo wir seit dem Brande5 noch nicht wieder waren, und aus der Rückreise einige Tage bey meinen Brüdern6 in Braunschweig zu verweilen. Früher hatte ich wohl die Idee, die Pariser Ausstellung zu besuchen, –da wir aber erst im vorigen Jahre die Münchener sahen7, und uns vor der Unruhe fürchten, die der übergroße Zusammenfluß von Fremden in Paris verursachen wird, so habe ich es wieder aufgegeben.
Mit der Bitte um herzliche Grüße an Ihre liebe Frau, wie immer ganz,
 
der Ihrige
Louis Spohr.))



Dieser Brief ist die Antwort auf Hauptmann an Spohr, 05.04.1855. Hauptmann beantwortete diesen Brief am 21.04.1855.
Die kompilierte Textfassung folgt in der Orthografie Druck 2. Ergänzungen von Druck 1 gegenüber Druck 2 stehen in eckigen Klammern < >, Ergänzungen von Druck 2 gegenüber Druck 1 in doppelten runden (( )).
Uhlendorffs Inhaltsangabe entspricht der Textüberlieferung: „Über Wagners Lohengrin, Joseph Joachim und Spohrs 7. Symphonie Irdisches und Göttliches im Menschenleben, die in Hannover aufgeführt wurde.“
 
[1] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 31.03.1855.
 
[2] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 30.03.1855. Hier und zum Folgenden siehe auch „Hannover“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung 4 (1855), S. 67.
 
[3] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 31.03.1855.
 
[4] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 01.04.1855.
 
[5] Stadtbrand in Hamburg zwischen 05. und 08.05.1842.
 
[6] August und Wilhelm Spohr (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 05.-08.07.1855).
 
[7] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 18.07.1854.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.02.2017).

Die kleine Excursion nach Hannover hat uns, meiner Frau und mir, viel Vergnügen gewährt. Ich spielte Quartett beym König<, und es schien mir, als reiche seine Kunstausbildung so weit, um an dieser Musikgattung Geschmack zu finden>.
Auch spielte ich mein Quartett (E-moll) in einer Matinee, die die Kapelle veranstaltet hatte, um mir 2 meiner Kompositionen zu hören zu geben, die sie sehr sorgfältig eingeübt hatte. Es waren dieß das 7. Violinconcert, ganz meisterhaft von Joachim vorgetragen, und das erste Doppelquartett, von welchem Kömpel die erste Stimme des erstem und Joachim die des zweiten Quartetts übernommen hatte. Auch dieß wurde in höchster Vollendung executirt. Am zweiten Tage gab mir die Kapelle nach einer Vorprobe meiner Sinfonie: „Irdisches und Göttliches im Menschenleben“ ein Festdiner, welches 5 Stunden dauerte, und überreich an Reden, Gesängen und Toast‘s war. Im höchsten Grade erschöpft, muste ich Abends in einer Musikparthie bey meinem alten Freunde Hausmann noch 2 meiner Quartetten spielen und kam, wie auch die vorigen Abende erst um 2 Uhr zur Ruhe. Am dritten Tage war Vormittags die Generalprobe und Abends das Concert zum Besten der Armen, wozu mich der König hatte einladen lassen. Ich dirigirte die erste Hälfte, bestehend in der Ouverture und dem Duett aus Jessonda und meiner Sinfonie. Alles dreies wurde meisterhaft executirt, besonders die Sinfonie, welche ich noch nicht so gut gehört habe, selbst nicht in London. Das kleine Orchester, von Joachim vorgespielt, bestand aus der Elite der Kapelle, und war sehr vortheilhaft auf dem Theater placirt, so daß es sich sehr gut vom großen sonderte. Dieses bestand aus 20 Violinen, 6 Violen, 5 Violoncells und 5 Kontrabässen, und contrastirte daher schon durch seine imposante Kraft in dem sonoren, und nicht übermäßig großen Theater, mit dem Soloorchester auf der Bühne. Der Efekt war sehr befriedigend. Das Orchester ist aber auch in der That sehr ausgezeichnet, besonders in den Saiteninstrumenten. Die Harmonie zählt zwar ausgezeichnete Virtuosen, ist aber im Ensemble weder so gleich im Ton, noch so rein in der Intonation wie die unsrige. Den zweiten Theil des Concerts dirigirte Kapellmeister Fischer. Er bestand in der Ouverture zu Euryanthe, dem Beethovenschen Violinconcert mit neuen Joachim‘schen übermäßig langen, sehr schweren, aber undankbaren Cadenzen und den bereits genannten Nummern aus Lohengrin. Das Concert war überfüllt, und muß der Armenkasse eine bedeutende Summe eingetragen haben. — Am andern Morgen, vor der Abreise, überreichte mir die Kapelle durch eine Deputation der ausgezeichnetsten Mitglieder einen Taktirstab, der so reich und geschmackvoll ist, wie ich noch keinen ähnlichen gesehen habe. Wie ich später erfuhr, hat ihn der König machen lassen, und der Kapelle zur Uebergabe an mich geschenkt. Er besteht aus einer zierlichen cannelirten Säule von Elfenbein, unten mit einem goldenen Griff, reich mit farbigen Steinen besetzt, und oben mit einer ähnlichen goldnen Verzierung, in einem Knops endend, ebenfalls mit kleinen Steinen besetzt. Das Ganze ist äußerst geschmackvoll (an dem selbst Wolff nichts auszusetzen weiß,) und hat an dem Griff die Inschrift in erhabenen Buchstaben: „Die Königl. Hannoversche Kapelle dem Generalmusikdirector Dr. Spohr am Listen März 1855." Der Kurfürst, der sich das Kunstwerk zur Ansicht holen ließ, ist, wie mir der Intendant erzählte, sehr aufgebracht gewesen, daß es in der Inschrift nicht heißt „Dem Kurfürstlichen Generalmusikdirector" und hat gemeint, wer wisse nun in der Zukunft, daß das sein Generalmusikdirector gewesen sey? [...]

Cassel den 13ten April 55.
 
Geliebter Freund,
 
Ihr lieber, herzlicher und interessanter Brief zu meinem Geburtstage hat mir große Freude gewährt, und ich sage Ihnen den innigsten Dank dafür. Es ist mir, der ich mich bey dem jetzigen Kunsttreiben immer einsamer und verlassener fühle, ein wahrer Trost unter den ältern Künstlern noch Gesinnungsgenossen zu finden, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß, so lange diese noch leben und wirken, eine Umkehr zum Bessern noch möglich sey. Je mehr ich von der allerneuesten Musik kennen lerne, jemehr wird sie mir zuwider. Dieß gilt nicht bloß von der der unbegabten jüngsten Komponisten, sondern selbst von der Wagner‘schen. Ich hatte in Hannover Gelegenheit wieder mehrere Nummern aus Lohengrin, die mir noch unbekannt waren, zu hören, kann aber nicht sagen, daß sie mich im mindesten angezogen hätten, obgleich sie sorgfältig eingeübt, und sehr stark besetzt waren. Freilich paßt diese Musik am allerwenigsten für Concerte, und wird mit der Handlung verbunden mehr Interesse erregen.
Die kleine Excursion nach Hannover hat uns, meiner Frau und mir, viel Vergnügen gewährt. Ich spielte Quartett beym König [...]
Auch spielte ich in einer Matinee, die die Kapelle veranstaltet hatte, um mir 2 meiner Kompositionen zu hören zu geben, die sie sehr sorgfältig eingeübt hatte. Es waren dieß das 7te Violinconcert, ganz meisterhaft von Joachim vorgetragen, und das 1te Doppelquartett, von welchem Kömpel die erste Stimme des 1ten und Joachim die des zweiten Quartetts übernommen hatte. Auch dieß wurde in höchster Vollendung executirt. Am 2ten Tage gab mir die Kapelle nach einer Vorprobe meiner Sinfonie: „Irdisches und Göttliches im Menschenleben“ ein Festdiner, welches 5 Stunden dauerte, und überreich an Reden, Gesängen und Toast‘s war. Im höchsten Grade erschöpft, muste ich Abends in einer Musikparthie bey meinem alten Freunde Hausmann noch 2 meiner Quartetten spielen und kam, wie auch die vorigen Abende erst um 2 Uhr zur Ruhe. Am 3ten Tage war Vormittags die Generalprobe und Abends das Concert zum Besten der Armen, wozu mich der König hatte einladen lassen. Ich dirigirte die erste Hälfte, bestehend in der Ouverture und dem Duett aus Jessonda und meiner Sinfonie. Alles dreies wurde meisterhaft executirt, besonders die Sinfonie, welche ich noch nicht so gut gehört habe, selbst nicht in London. Das kleine Orchester, von Joachim vorgespielt, bestand aus der Elite der Kapelle, und war sehr vortheilhaft auf dem Theater placirt, so daß es sich sehr gut vom großen sonderte. Dieses bestand aus 20 Violinen, 6 Violen, 5 Violoncells und 5 Kontrabässen, und contrastirte daher schon durch seine imposante Kraft in dem sonoren, und nicht übermäßig großen Theater, mit dem Soloorchester auf der Bühne. Der Efekt war sehr befriedigend. Das Orchester ist aber auch in der That sehr ausgezeichnet, besonders in den Saiteninstrumenten. Die Harmonie zählt zwar ausgezeichnete Virtuosen, ist aber im Ensemble weder so gleich im Ton, noch so rein in der Intonation wie die unsrige. Den 2ten Theil des Concerts dirigirte Kapellmeister Fischer. Er bestand in der Ouverture zu Euryanthe, dem Beethovenschen Violinconcert mit neuen Joachim‘schen übermäßig langen, sehr schweren, aber undankbaren Cadenzen und den bereits genannten Nummern aus Lohengrin. Das Concert war überfüllt, und muß der Armenkasse eine bedeutende Summe eingetragen haben. — Am andern Morgen, vor der Abreise, überreichte mir die Kapelle durch eine Deputation der ausgezeichnetsten Mitglieder einen Taktirstab, der so reich und geschmackvoll ist, wie ich noch keinen ähnlichen gesehen habe. Wie ich später erfuhr, hat ihn der König machen lassen, und der Kapelle zur Uebergabe an mich geschenkt. Er besteht aus einer zierlichen cannelirten Säule von Elfenbein, unten mit einem goldenen Griff, reich mit farbigen Steinen besetzt, und oben mit einer ähnlichen goldnen Verzierung, in einem Knops endend, ebenfalls mit kleinen Steinen besetzt. Das Ganze ist äußerst geschmackvoll (an dem selbst Wolff nichts auszusetzen weiß,) und hat an dem Griff die Inschrift in erhabenen Buchstaben: „Die Königl. Hannoversche Kapelle dem Generalmusikdirector Dr. Spohr am Listen März 1855." Der Kurfürst, der sich das Kunstwerk zur Ansicht holen ließ, ist, wie mir der Intendant erzählte, sehr aufgebracht gewesen, daß es in der Inschrift nicht heißt „Dem Kurfürstlichen G.M.D." und hat gemeint, wer wisse nun in der Zukunft, daß das sein G.M.D. gewesen sey?! Was haben Sie für den Sommer für Reisepläne? Haben wir keine Aussicht Sie und die lieben Ihrigen hier zu sehen? Meine Frau und ich werden nur auf kurze Zeit abwesend von hier seyn, denn wir denken nur einen kurzen Ausflug nach Hamburg zu machen, wo wir seit dem Brande noch nicht wieder waren, und aus der Rückreise einige Tage bey meinen Brüdern in Braunschweig zu verweilen. Früher hatte ich wohl die Idee, die Pariser Ausstellung zu besuchen, - da wir aber erst im vorigen Jahre die Münchener sahen, und uns vor der Unruhe fürchten, die der übergroße Zusammenfluß von Fremden in Paris verursachen wird, so habe ich es wieder aufgegeben.
Mit der Bitte um herzliche Grüße an Ihre liebe Frau, wie immer ganz,
 
der Ihrige
Louis Spohr.