Autograf: Hauptstaatsarchiv – Niedersächsisches Landesarchiv Hannover (D-HVsa), Sign. Hann. 132 Nr. 19, Bl. 115f.
Druck: Richard Tronnier, Von Musik und Musikern, Münster 1930, S. 96 (teilweise)

Hochgeborner,
Hochverehrter Herr Graf,1

Bey meiner Abreise nach Hannover versprach ich unserm Opernregisseur Herrn Birnbaum, Ihnen von den Fähigkeiten seiner Tochter zu sprechen, die eben im Begriff ist, ihre Laufbahn als dramatische Sängerin zu beginnen; über die überaus freundliche Aufnahme und das bewegte Leben dort, vergaß ich leider ganz meine Zusage, und bin nun genöthigt, sie schriftlich noch nachzuholen. Fräulein Birnbaum besitzt, bey einem wohlgebildeten Äußern, eine klingende, reine Sopranstimme von dem nöthigen Umfange und eine bereits recht weit vorgeschrittene musikalische Ausbildung. Ihr letzter Lehrer war ein berühmter Gesanglehrer2 zu Mailand, wohin der Vater sie auf ein Jahr gesandt hatte. Nach ihrer Rückkehr hat sie im letzten Winter in Bremen ihre ersten dramatischen Versuche gemacht und wie mir der Vater versichert mit höchst günstigem Erfolg. Da sie nun eine für den Anfang hinreichende Anzahl von Opernparthien eingeübt hat, so erwünscht der Vater für sie ein Engagement zu finden, wo sie in jugendlichen Rollen, die ihrer Persönlichkeit und ihren Gesangsleistungen angemessen sind, beschäftigt werden könnte. Da er auch die Absicht hatte sich deshalb nach Hannover zu wenden, so bat er mich, dort ein günstiges Zeugnis über die Fähigkeiten seiner Tochter abzulegen, welchem ich nun noch nachträglich in Vorstehendem nachgekommen bin.
Übrigens ist mir meine Vergessenheit nun nicht leid, weil sie mir eine Veranlassung darbiethet, Ihnen hochverehrter Herr Graf nochmals für Ihre freundliche Einladung nach Hannover, der ich so genußreiche und frohe Tage verbrachte, meinen herzlichsten Dank sagen zu können! Besonders wird die Huld, mit der mich das hohe Herrscher-Paar beehrte, nie aus meinem Gedächtnis schwinden!3
Die von dort mitgebrachte Trophäe, der so geschmackvolle und reich verzierte Taktirstab hat hier große Sensation erregt. Ich benutzte die erste Gelegenheit (die Generalprobe um Messias,) um ihn der Kapelle und dem zahlreich versammelten Sängerpersonal vorzuzeigen, und er fand die allgemeinste Bewunderung. Auch der Kurfürst ließ ihn zur Ansicht holen, und hat sich höchst beyfällig darüber ausgesprochen.4 Er bildet jetzt eine der schönsten Zierden unter den vielen Geschenken, die ich auf meinen zahlreichen Reisen gesammelt und jetzt in einem Glasschranke in meinem Musiksaale aufgestellt habe.
Indem ich mich Ihrem ferneren Wohlwollen empfehle, verbleibe ich mit den Gefühlen innigster Hochachtung und Ergebenheit

Ew. Hochgeboren
gehorsamster
Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Platen, Georg von
Erwähnte Personen: Birnbaum, Auguste
Birnbaum, Carl
Friedrich Wilhelm Hessen-Kassel, Kurfürst
Georg V. Hannover, König
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Bremen
Kassel
Mailand
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Kassel>
Hofkapelle <Kassel>
Hoftheater <Hannover>
Singakademie <Kassel>
Stadttheater <Bremen>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855040516

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Platen an Spohr, 01.03.1855. Platen beantwortete diesen Brief am 13.04.1855.
Am 01.04.1855 kehrte Spohr aus Hannover nach Kassel zurück (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 01.04.1855). Aus dem Antwortvermerk Platens auf dem Autograf dieses Briefs sowie aus dem Antwortbrief folgt, dass dieser Brief am 10.04.1855 in Hannover eintraf. Einen Postweg von wenigstens einem Tag vorausgesetzt, entstand dieser Brief demnach zwischen dem 02.04. und 09.04.1855 entstanden sein.

[1] Neben der Anrede befindet sich von anderer Hand der Antwortvermerk des Empfängers: „Erwidert 10/4 55, daß H. Birnbaum sich direct an den H. Grafen wenden mag. U.“.

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 28.03.-01.04.1855; Louis Spohr an Ferdinand Böhme, 19.04.1855.

[4] Vgl. dagegen Spohr an Moritz Hauptmann, 13.04.1855.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.06.2020).