Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr Hochwohlgeboren
Herrn Generalmusikdirector Dr. Spohr
in
Cassel1


Dordrecht den 3ten April 1855.

Hochverehrtester Herr Generalmusikdirector!

Empfangen Sie meine allerherzlichsten Glückwünsche zu Ihrem Geburtstage! Wie sehr wünschte ich Ihnen meine Gratulation selbst aussprechen zu können und – wenn auch nur auf Augenblicke bei Ihnen zu sein, um Ihnen so recht von herzen sagen zu können alles was ich für Sie von Liebe, Hochachtung u Verehrung fühle! Leider muß ich mich drein finden und in meinem versteckten Winkel der Erde ausharren und so kann ich Ihnen, verehrter mann, nur dürftig schreiben wie die Liebe und Hochachtung und Verehrung für Sie, sich immer mehr bei mir steigern und wie meine herzlichsten Wünsche Sie auch in diesem neuen Lebensjahre begleiten!
Ihr letzter Brief, wofür ich Ihnen recht vielen Dank sage, hat mir gar viele Freude geschaft und mich aufs Neue mit Ihrem thätigen Leben bekannt gemacht. Ich hoffe alle die neuern Werke von Ihnen kennen zu lernen! Nun fehlen mir aber leider in meinem Cataloge von Ihren Werken alle diejenigen aus den Jahren 1841-1848. Opus 117 ist das letzte Werk welches ich aus Ihrem eigenen Cataloge notirt habe. Auch Ihre Doppel-Sinfonie „Irdisches und Göttliches“ habe ich notirt, denn ich war noch in Cassel wie sie einstudirt und zum Erstenmale ausgeführt wurde; allein ob sich zwischen beiden Werken noch andre befinden, weiß ich nicht und wenn ich Ihre Güte und Geduld nicht zu sehr in Anspruch nehme, so möchte ich Sie recht sehr bitten, mich mit denjenigen von Ihren Werken autentisch bekannt zu machen, die in die Zeit von 1841-48 fallen.
Zugleich möchte ich Sie recht dringend ersuchen mir Ihren Rath nicht zu versagen. Man hat mich nämlich zum Mit-Directeur des Niederländischen nationalen Gesangfestes (Männergesang) ernannt, eine Ehre die groß und ungewöhnlich ist, wenn man die große Nationalität der Holländer in Rücksicht nimmt. Dieses Fest sollte erst in Utrecht gefeiert werden, ist aber aus Mangel eines passenden Locale vorläufig ausgestellt u wird nun wahrscheinlich in einer andern Stadt vor sich gehen.2 jedenfalls muß ich mich vorbereiten und wer könnte mir wohl bessern Rath ertheilen, als Sie, hochverehrter Herr Generalmusikdirector, der so viele große Musikfeste geleitet hat und einen so reifen Schatz von Erfahrungen aller Art besitzt? Da ich ziemlich unbekannt bin wie Massen geleitet werden müssen und außerdem meinem Posten Ehre zu machen wünsche, so erbitte ich mir hierüber Ihren guten Rath und was ich größtentheils zu beobachten habe?
Die Concert-Saison ist nun wieder zu Ende; jedoch war sie sehr lebhaft. Noch ganz kürzlich gab Frau Jenny Goldschmidt-Lind Concerte u auch hier in Dordrecht3 und hatte ich die Freude von ihr eingeladen zu werden u einen glücklichen Abend zu verbringen. Beide, ihr Mann als sie selbst waren sehr liebenswürdig. Sie ist wirklich eine vorzügliche Sängerinn obgleich ihre Stimme selbst, offenbar gelitten hat. Außerdem waren madame Schumann, Herr Vieuxtemps, Wilhelmine Claus und eine Menge anderer Künstler u Virtuosen hier im Lande. Hr. Vieuxtemps war auch hier zu unserm Concerte und spielte schön u bewundertungswürdig4; allein Ihrem Ton und Vortrag und solides Spiel besitzt er nicht. An Künsten pp habe ich niemals dergleichen gehört, was er mit Schönheit, Deutlichkeit u Reinheit ausführt. Er schien ein großer Verehrer von Ihnen zu sein und sprach mit großer Vorliebe über sie. Kennen Sie ihn näher, Herr Generalmusikdirector? Mir erschien er als ein sehr lieber gutmüthiger Mensch. Herr Tours in Rotterdam feierte kürzlich sein 25 jähriges Concert-Jubiläum wo Mad. Schumann, Hr. Vieuxtemps u Mad. Nissen die Solisten waren5 und Herr Vrugt, dessen Sie sich vielleicht auch noch erinnern, sang noch ganz kürzlich das Air aus Zemire u Azor in Felix Meritis in Amsterdam, welches ich vor mehreren Jahren ihn sehr reizend vortragen hörte.6 Leider geht es ihm nicht alzugut, so wie so vielen Sängern pp!
Seitdem nun mein Bruder7 von hier gegangen ist, fühle ich mich8 sehr verlassen und suche Zerstreuung und Trost in Beschäfftigung, woran ich denn auch keinen Mangel habe und die, wäre sie nur was mehr künstlerisch, mich manches Unangenehme vergessen machen würde. Über Verdienste selbst darf ich nicht im Mindesten klagen, aber so wenig über mein Wirken wofür ich unangebauten Boden genug finde; allein das Klima, die Lebensweisse, Sitten pp sind es die mich oft unangenehm berühren und das Verlangen nach dem Vaterlande rege machen, obgleich es in vieler Hinsicht in Deutschland unerträglich ist u höchst traurig aussieht! –
Ihre Nichte Fräulein Rosalie hat mir ihre Verlobung angezeigt u ich darf nicht nach lassen auch Sie dazu zu grautliren!
Ihre Werke verbreiten sich hier immer mehr u mehr und ich könnte Ihnen eine Menge davon nennen, die diesen Winter ausgeführt sind. Als etwas Besonderes melde ich Ihnen daß man in Amsterdam, wie ich höre, ihr Oratorium „Die letzten Dinge“ mit lateinischem Texte ausgeführt hat.9 Die verewigte Sprache ist diese die das Lob des Meisters kündet?
An Frau Generalmusikdirector bitte ich meine allerbesten u dringendsten Empfehlungen zu sagen und Freund Bott herzlich zu grüßen, wenn er sich Ihrer würdig erzeigt. Mit unendlicher Liebe u Hochachtung und Verehrung bleibe ich stets Ihr getreuer

Ferdin. Böhme



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Böhme, 20.04.1854. Spohr beantwortete diesen Brief am 19.04.1855.

[1] Links unter dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „J. 1 / 6/4“, rechts darunter zwei verwischte Stempel.

[2] Das Sängerfest wurde auf Juni 1856 verschoben (vgl. Böhme an Spohr, 03.04.1856; „Utrecht, 6 Nov“, in: Hoornsche courant 10.11.1855, S. [2]).

[3] Vgl. „Dordrecht, den 18 April 1855“, in: Caecilia <Utrecht> 12 (1855), S. 93ff., hier S. 94.

[4] Vgl. ebd., S. 93f.

[5] Es war nicht Tours persönlichs Jubiläum, sondern das der Eruditio Musica (vgl. „[Nog vol van de eerste indrukken eenr heden avond bijgewoonde feestviering]“, in: Rotterdamsche courant 19.01.1855, S. [3]).

[6] Vgl. X., „Amsterdam“, in: Caecilia <Utrecht> 12 (1855), S. 65ff., hier S.66.

[7] Wilhelm Eysholdt.

[8] Hier gestrichen: „hier“.

[9] Vgl. X., „Amsterdam“, in: Caecilia <Utrecht> 12 (1855), S. 65ff., hier S.67.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (09.10.2020 ).