Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 42ff.

Leipzig, den 27. März 1855.

[…] Im gestrigen Pensionsconcerte wurde eine neue Composition von Gade „Erlkönigstochter" aufgeführt, eine dramatisirte Ballade, wie Schumann deren mehrere gemacht, die in ihrer Art sehr anmuthig, sehr blühend ist; die Art aber, die ganze Gattung scheint mir nicht recht kunstberechtigt. Es ist im Einzelnen doch zu viel Willkür dabei, was episch, dramatisch, was vom Chor, was von einzelnen Stimmen gesungen werden soll. Alles nach Gedichten, die von Haus aus nicht zur Composition bestimmt waren und von denen man die besseren lieber ohne Musik hören möchte, die sie entweder verrenkt oder sich nicht ihnen verbinden will.1 [...]
Von Moritz Hauser wird gegenwärtig eine Oper unter seiner Leitung hier einstudirt, die am 26sten dieses gegeben werden soll.2 Er ist ein tüchtiger Musiker geworden und gewandt in jeder Weise, kunstgewandt meine ich, übrigens im Aussprechen seiner Meinung sehr rücksichtslos und macht sich bei der Zukunftspartei keine Freunde. Ein Operncomponist ist ohnehin in unserer Zeit schlimm genug daran, er sitzt zwischen zwei Stühlen; die Hälfte des Publicums will das Alte nicht, die Hälfte will das Neue nicht. Wie die beiden Frauen, von denen eine die weißen, die andere die schwarzen Haare an einem und demselben Manne (die Geschichte ist orientalisch, polygamisch) nicht mochten und jede so lange zupfte bis er als Kahlkopf dasaß.3
An *-Compositionen kann ich auch keine Freude haben. So viele unserer jungen Componisten haben aber auch gar keine poetisch harmlose Kindheit in ihrer Kunst gehabt, sie fangen gleich verzweifelt an, mit dem verlorenen Paradiese, wo soll da eine Erinnerung ans unverlorne herkommen, wie wir sie bei Beethoven's allerletzten verzweifeltsten Sachen so schön oft wiederfinden wie Nachklänge der „fernen Geliebten"4 in aller vergangenen Seeligkeit. Dafür bekommen wir jetzt nur trocknen Verdruß, Ekel an aller Wirklichkeit und hochmüthig egoistisches Wesen, was eigentlich keinen Glauben an sich hat und haben kann, sich und Andere aber doch bereden möchte, es sei Etwas. Was nicht überspannt ist, kommt ihnen schlaff vor und unbedeutend; von Schönheit ist in ihrer Kunstlehre aber gar nicht die Rede. Das schönste Kunstmaterial, um das jede andere Kunst die Musik beneiden kann, der Klang wird bei ihnen so zermartert und zerquetscht, daß es nur noch kreischen und winseln kann: so giebt es eine unmusikalische klanglose Musik, und was in früheren Compositionen herb und störrisch erschien, kommt einem jetzt paradiesisch mild vor gegen das, was uns im Neuesten zu hören zugemuthet wird. Leben Sie wohl, lieber Herr Kapellmeister, bleiben Sie uns noch lange und bleiben Sie mir gut.

Autor(en): Hauptmann, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Hauser, Moritz
Erwähnte Kompositionen: Beethoven, Ludwig van : Lieder, Singst Kl, op. 98
Gade, Niels : Erlkönigstochter
Hauser, Moritz : Der Erbe von Hohenegk
Erwähnte Orte: Leipzig
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855031633

Spohr



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 18.01.1855. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 05.04.1855, davor könnte noch ein weiterer derzeit verschollener Brief liegen.
Aus der Erwähnung des „gestrigen Pensionsconcert“ vom 15.03.1855 geht hervor, dass die Datierung im Druck „27. März 1855“ offensichtlich falsch ist und der Brief am 16.03.1855 geschrieben sein dürfte.

[1] Vgl. „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 42 (1855), S. 139f., hier S. 140; „Concert zum Besten des Orchester-Pensionsfonds im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Donnerstag den 15. März 1855“, in: Signale für die musikalische Welt 13 (1855), S. 113f.

[2] Vgl. „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 42 (1855), S. 251, 259f. und 270f.; „Der Erbe von Hohenegk“, Signale für die musikalische Welt 13 (1855), S. 185f.; Moritz Hauptmann an Franz Hauser, 29.05.1855, in: Moritz Haupmann, Briefe an Franz Hauser, hrsg. v. Alfred Schöne, Bd. 2, Leipzig 1871, S. 129ff.

[3] Hauptmann könnte sich beziehen auf: M., „Proben einer herauszugebenden Sammlung von Fabeln, alten äsopischen, für gebildete Deutsche neu umgearbeiteten Stoffes“, in: Abendzeitung <Dresden> (1823), S. 141ff. und 161ff., hier S. 162.

[4] Lieder op. 98.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.02.2017).