Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Dep. 01 Briefe 04
Druck: Autographen. Literatur und Wissenschaft, Goethe und Schiller, Musik und Kunst, Geschichte und Politik, Teile der Sammlung Oskar Ulex, Sammlung C***, Sammlung Holleben. Versteigerung 27. und 28. Mai 1927 (= Katalog Henrici 120), Berlin 1927, S. 115 (teilweise)
Sr. Wohlgeb.
Herrn Concertmeister
Hubert Ries
in
Berlin
Oberwallstraße. No 7.
Cassel den 5ten
März 55.
Hochgeehrter Freund,
Recht sehr habe ich mich gefreuet, einmal wieder einige Zeilen von Ihnen, und damit die Nachricht von Ihrem und der Ihrigen Wohlbefinden erhalten zu haben.
Im Bezug auf Ihre junge Sängerin mußte ich erst Rücksprache mit unserm Herrn Intendanten nehmen, bevor ich Ihnen eine entscheidende Antwort geben konnte, obgleich ich schon im1 voraus wußte, daß Ihr Anerbieten, das uns zu einer andern Zeit sehr erwünscht gekommen wäre, sich in diesem Augenblick nicht werde annehmen lassen. Wir besitzen nämlich seit einem Jahr eine junge angehende Sängerin, (Frl. Amendt aus Mainz) die in ähnlicher Weise, mit jährlich steigenden Gehalt, wie Sie für die Ihrige proponiren, bey uns angestellt ist.2 Obgleich nun nicht alle Erwartungen, die man vor einem Jahr hegte, in Erfüllung gegangen sind, so kann man doch auch nicht behaupten, daß sie gar nicht fortgeschritten sey, die Intendanz ist daher an ihren Contract gebunden und kann vor Ablauf desselben keine weitern Aquisitionen an Sängerinnen machen. Ich bin daher beauftragt, Ihr gefälliges Anerbieten abzulehnen.
Daß Sie in Berlin diesen Winter und noch fortwährend mit Concerten überschwemmt sind, lese ich in den Berichten der Berliner Blätter. Es waren unter den fremden Künstlern sehr ausgezeichnete, und es hat mich nicht gewundert, daß diese in Berlin große Sensation gemacht haben. Wie aber Geiger wie Bazzini eine eine solche Massen von Concerten geben konnte, und so viele Lobhudler fand, ist mir völlig unbegreiflich! Ich hörte ihn vor 2 Jahren in London, und habe nie etwas plumperes und ungeschickteres gehört, sobald man ihm nobele Musik zu spielen gab. Aber auch in den Paganini’schen Schnurpfeiffereien war er nicht einmal sehr ausgezeichnet! Man bekommt einen schlechten Begriff von der Berliner jungen Musikgeneration! oder ist es nur die des Krollschen Lokals, die sich in ihrem Geschmack so auszeichnet?3
In Hannover, wo Bazzini nach Berlin auftrat, ist er, wie damals in London total durchgefallen!4 Die Stadt der Intelligenz, wie Berlin sich gern nennt, hat doch auch viel nicht sehr Intelligentes in ihrem großen Haufen und in ihrem Kunstgeschmack!
Herzliche Grüße an die lieben Ihrigen und an Herrn Kapellmeister Taubert.
Wie stets ganz
der Ihrige
Louis Spohr.
Autor(en): | Spohr, Louis |
Adressat(en): | Ries, Hubert |
Erwähnte Personen: | Amendt, Josephine Bazzini, Antonio Taubert, Wilhelm |
Erwähnte Kompositionen: | |
Erwähnte Orte: | Berlin Hannover London |
Erwähnte Institutionen: | Hoftheater <Kassel> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1855030510 |
Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Ries an Spohr. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Ries, 23.09.1858.
[1] „im“ über der Zeile eingefügt.
[2] Josephine Amendt debütierte in Kassel im Herbst 1853 (vgl. „Tagesgeschichte“, in: Neue Zeitschrift für Musik 39 (1853), S. 207).
[3] Vgl. „Berlin. Musikalische Revue“, in: Neue Berliner Musikzeitung 9 (1855), S. 66f.; durchaus kritisch zum Auftritt im Krollschen Saal: „Musikalischer Jahresbericht aus Berlin“, in: Grenzboten 14.2 (1855), S. 81-95, hier S. 91.
[4] Zu Bazzini in Hannover vgl. lobend: „Hannover“, in: Neue Berliner Musikzeitung 9 (1855), S. 46.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (14.11.2024).