Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Herrn General-Musik-Director
Spohr.
Hierbei 1 versigl. Paquet in Papper
vigl. I.L. No 2.
in
Cassel.

fro1


Naumburg d. 24 Januar 1855.

Hochgeehrtester Herr General-Musik-Director!

Eine größere Weihnachtsfreude als mir Ihr lieber Brief v. 17 Dcbr. bereitete, konnte mit selbst der große Kreis meiner Kinder und Enkel und deren wetteifernde Liebe, nicht bieten. – Ja! die Erinnerung an das 1854: Weihnachtsfest, wird bis zu meinem Tode, durch eine Vereinigung so mancher glücklicher, nur mehr oder minder wohlthuenden Umstände, unter allen Weihnachtsfesten (deren ich immer noch mit ganzer Seele zugethan bin) als ein sehr theures Andenken in mir fortleben. – Ich war schon 10 Tage vor Weihnachten, bis zum heiligen Abend in Leipzig anwesend, um eine Menge Versendungen meiner neu herausgegebenen Opera (da ich mit allen soliden Musikhandlungen Deutschlands, ja! selbst der fremden angrenzenden Länder wo Deutsche Lieder gesungen werden, im Verkehr stehe) nebst anderen Geschäften zu besorgen, befand ich am 29 Dcbr., noch eben vor Tischzeit, bei meinem Banquier, um mit diesem zu überlegen, wie ich ein paar Tausend Thaler, womit mich die Casseler Lotterie-Anleihe-Direction durch Auslosung einer Serie am 1sten December, (zu meinem Geburtstage) freundlichst angebunden hatte, am 1 July a.c.2 am billigsten von dort beziehen könne – und fand, bei Ankunft im Hotel, einen Brief meiner Frau vor, welche mir eine Parthie in meiner Abwesenheit eingegangenen Briefe zusandte. – Unter diesen, war auch der Ihrige! – Sie können sich meine Freude denken! – denn ich hatte weder eine so baldige, noch so überaus günstige, am wenigsten aber, eine so herzliche und die mich wirklich mächtig rührende Nachricht3 von einem so großen Meister wie Sie sind – dessen musikalische Schöpfungen ich so hoch verehre – erwartet: „daß mein, in aller Bescheidenheit eines Dilettanten, aber mit warmen Herzen für Religion und dem milden Zweick geschriebenen „Todtenfeier“, für tüchtig genug erachtet werde würde, um solche zur Einübung mit Ihrem geschätzten Cäcilien-Verein, werth gehalten zu werden. – Obgleich der überaus freundliche Brief unserer Königin, bei Uebersendung des Exemplars, das Werk als „ein gelungenes“ bezeichnete und dieß, wohl nur auf eine vorher gegangenen Prüfung geschehen sein konnte; so lag mir, weniger um meinetwillen als der guten Zwecke wegen die ich bei der Ausgabe beabsichtigte, sehr viel daran: auch noch weitere unpartheiische Urtheile von mir theuren großen Musikmeistern darüber zu hören.
Sie, Hochgeehrtester Herr (und wenn ich es wagen darf – Freund – denn im Geiste waren Sie mir es wohl schon ein halbes Jahrhundert, durch Ihre Werke und Ihr Violin-Spiel) waren der Erste, der es für der Mühe werth hielt, nicht nur so bald sich mit der Durchsicht, sondern sogar mit der Einübung dieses Produkts eines unbekannten Dilettanten zu beschäftigen, und mir Trost zuzurufen. – Seitdem habe ich einen Brief von dem Mus. Direct. Grund in Hamburg durch meinen Sohn4 – der daselbst als Kaufmann etablirt ist, und, so jung noch, schon seit 2 Jahren die Ehre und das Vertrauen genießt, zum Consul von der Republik Ecuador ernannt worden zu sein; – zugleich aber auch ein tüchtiger Sänger und P.forte Spieler, überhaupt Musikverständiger ist) erhalten. – Grund pflichtet nicht nur Ihrem Urtheil bei; sondern thut dem Satze No 5. sogar die Ehre an, ihn als eine gute Fuge zu bezeichnen, die jetzt manchem Musiker von Profession so zu schreiben, große Mühe machen dürfte.5 Ich habe nicht daran gedacht dies für6 eine Fuge, am wenigsten für eine gelungene, ausgeben zu wollen; denn meine vielen Berufs-Arbeiten, haben mir früher nie gestattet, mich in die tiefen Heiligthümer des Generalbasses zu versenken (vielleicht finde ich in meinem hohen Alter noch Zeit dazu, dies, so innig von mir ersehnte Studium zu betreiben; indem es hauptsächlich eine schnelle und correkte Niederschrift musikalischer Gedanken gewährt) und so wollte ich mit No 5. blos einen etwas fugirten Satz7 mit Stimmen Nachahmung – Letztern liebe ich besonders auch bei der Musik Anderer – 8 aber keineswegs eine Fuge schreiben, deren Regeln mir unbekannt waren. – Ich halte die No – wenn ich solche mit andern, nicht nur tüchtig durchgeührten sondern zugleich auch dem Ohre wohlthuenden und, dem Texte nach am richtigen Platze stehenden Fugen – vergleiche, – auch heute nur noch für den Anfang einer solche; würde aber vielleicht auch, selbst wenn ich es verstanden hätte das erste Motif länger und besser durchzuführen, um nicht die Zuhörer damit zu langweilen, dasselbe verlassen und den Schluß, gerade so wie ich ihn gemacht, geschrieben haben. – Trotz der Befürchtung, Sie9 durch das Lesen meiner weiteren Privat-Angelegenheiten zu ermüden; kann ich nicht unterlassen zu erwähnen: wie Cassel meinen Eltern, namentlich meiner mir unvergesslichen Mutter, ein sehr werther Platz war, wo mehrere ihr sehr theure Verwandte und Freunde wohnten. – Bei Ihrer Hochzeit, am 5 Novembr. 1786 überreichten10 ihr 4. derselben, durch die Anfangs-Buchstaben: L. K. S. & B. bezeichnet, einen hübschen Carmen in Versen, dessen Composition für P.forte sogar beigedrukt worden ist. Sie hat mir (als den Aeltesten ihrer Kinder, obschon ich kaum 10 Jahre bei ihrem Tode zählte, ein Jahr vorher aber schon ein P.forte Concert öffentlich gespielt hatte und eine sehr schöne und umfangreiche Sopran Stimme besaß) diesen Carmen als ein Andenken an ihre Casseler Freunde vermacht. – Vor ohngefähr 50 Jahren, besuchte ich Cassel auf einer Geschäftsreise, als Cattunfabrikant, indem wir auf der Braunschweiger Messen an mehrere dortige Mode- und Ausschnitt-Handlungen – namentlich an einen Herrn Fr. Biermann – ziemlich bedeutenden Absatz machten. Nächstdem war es die Handlung, unter der Firma: Heinr. Ludwig der Aeltere, die ich nicht allein wegen der Geschäfte, sondern als die, meiner Mutter vor Allem lieb gewesenen Verwandten, begrüßte und sehr freundlich aufgenommen wurde. Trotzdem daß ein halbes Jahrhundert passirt ist, könnte ich den, damals schon sehr allten Herrn Ludwig, wie er, bei meinem Eintritt am Fenster saß, noch mahlen. Obschon dieses ehrwürdige Paar, nebst den andern Verwandten und Freunden meiner Mutter, längst zu Ruhe gegangen sein werden; so lebt doch gewis der damalige Geschäftsführer dieser Firma (und wie ich glaube Pflegesohn) den ich später, so lange wir die Cattunfabrick betrieben, wesentlich in Braunschweig sprach und andere Abkömmlinge der Erstern, noch. Dieser Carmen und die Casseler Freunde waren mir nach so langer Zeit, und ernsten Sorgen und Geschäften, ganz aus dem Gedächtniß verschwunden. – Ihr Brief, mit der Ueberschrift „Cassel“ mußte aber die alten Erinnerungen an diesen Ort wieder rege gemacht haben; denn, kurz darauf, kam mir, im Traume, der Gedanke an diesen Carmen, an meine Mutter und ihre Freunde dort, wieder vor die Seele. Den Morgen darauf, suchte ich gleich, in meiner Wust an Privat-Papieren, nach dem Carmen, und siehe, ich fand ihn gleich beim ersten Griff, unter anderen Andenken an meine Mutter, treulich aufbewahrt.
Ich hatte mir, schon im Herbst 1853, vorgenommen, Cassel, so wie die vielen Verwandten und Freunde meines Vaters (der, ein geborner Elberfelder, dort, so wie in Barmen, Dortmund, Unna, Soest, Iserlohn, Düsseldorf und in der ganzen dortigen Gegend noch eine große Anzahl derselben besitzt, die ich aber auch seit 50 Jahren nicht besucht, sondern nur theilweise, so lange ich die Messen noch bereiste, in Leipzig, Braunschweig und Frankfurt a/main gesehen hatte11 voriges Jahr, vor meinem Tode noch einmal zu12 sprechen; als, nicht nur ein unerwarteter aber sehr nöthiger Bau der sämmtlichen Seiten- und Hintergebäude meines Wohnhauses, sondern auch ein Um- und Weiterbau eines zufällig im Winter 1853. erkauften Hauses, welhes ich zur Wohnung für 22. arme Familien einrichtete, mich so gewaltig in Trapp sezte; daß ich, von Mitte Februar bis Mitte Novembr. 54. jeden Tag von früh 5 Uhr bis Abends spät nicht aus dem Fache kam, und es sehr beklagte mich selbst der Musik nur mitunter Stundenweise hingeben zu können. An die Reise war natürlich nicht mehr zu denken! – Sie wurde für 1855. beschlossen und wird durch die eingetretenen Umstände, wenn ich gesund bleibe, nun um so nöthiger und interessanter, weil ich nächst der Abholung meiner Gelder und dem Aufsuche der Freunde meiner Mutter, noch den dringenden Wunsch habe: „Sie, verehrter Mann, persönlich kennen zu lernen. – Es kommt noch eine Veranlassung dazu; – Ich habe nämlich, dem berühmten Kölner Männer-Gesang-Vereine, mein Op. 20. „Das Lied vom alten, deutschen Rhein,“ Doppelchor für Männerstimmen und ganz zhu größern Aufführungen geeignet, gewidmet. Die Direction hat mich aber, in einem, sowohl hinsichtlich des Textes als der Musik, eben so herzlichen wie äußerst schmeichelhaften Schreiben, aufgefordert, Köln zu besuchen; um mir zugleich durch die That zu beweisen, welchen Werth dieser Verein auf diese herrliche Musik lege u.s.w.“ – Daß man sich so etwas nicht gern 2 mal sagen läßt, bevor man es ausführt, können Sie sich denken.
Jetzt habe ich, Weihnachten 1854. zu Ehren, ein im Texte ganz in meinem Sinne geschriebenes Weihnachtslied von Ernst Ortlepp, für Soli und gemischten Chor, vollendet; an dem ich, mit wahrer Liebe, fast Tag und Nacht gearbeitet, um es noch zum Druckt fertig zu bringen. Sobald derselbe beendigt ist, ermangele ich nicht, Ihnen ein Exemplar zuzusenden. – Den Text des Dichters, der mir mitunter doch zu viel Trostlosigkeit über die jetzige Zeit enthielt, habe ich durch einige eingeflochtene Choral-Verse aus den frommen, stets Gott fest vertrauenden Liedern eines Paul Gerhard, Gellert und Herrmann versöhnt, und durch dieselben, bei kirchlichen Aufführungen, zugleich der Gemeinde Gelegenheit gegeben, theilweise am Gesang Theil zu nehmen, was ich nie unterlasse, wo es anzulegen möglich ist; denn, ein schöner Choral, geht mir über Alles in der Musik.
Ich erlaube mir Ihnen beikommend Op. 22 bis incl(???) 25. in Partitur und Stimmen mitzusenden. Sie sind alle, trotz und während des Baues diesen13 Sommer beendigt14 aber jetzt erst fertig geworden. Ich bitte Sie solche, wenn Sie sich vielleicht vorher erst der Mühe der Durchsicht unterziehen wollen, an die dortige Hof-Musik-Handlung von J. Luckhard abgeben zu lassen den ich auch meine frühern Ausgaben zugesendet habe. – Das Op 23. dessen Einsendung und Widmung mir früher von dem Prinzen von Preussen, auf das Manuscript freundlichst und eigenhändig zugesichtert wurde, konnt auch erst heute bewerkstelligt werden, weil ich durch die Correcturen, die ich alle selbst mache, und die Anfertigung der Zueignungsplatte, so lange aufgehalten worden bin. – Op. 24. hat im Texte, den ich voraus drucken ließ, da wo ich solchen mittheilte, allgemein viel Anklang gefunden. Zu den vorgeklebten Zettel, wurde ich veranlaßt, weil mir ein Freund15 – der Compagnon meines Banquiers in Leipzig und ein schöner Geist nebenbei – dem ich auch meinen Text überließ, schrieb: „daß er, am Sylvester, dies Lied in einer großen Gesellschaft vorgelesen, und dies einen so enthusiastischen Beifall hervorgerufen, daß er es noch zweimal habe wiederhohlen müssen, während die Gesellschaft, die Refrains wie Tutti, nachgesprochen hätte. – Die bemerkten Veränderungen habe er sich erlaubt, und sie seien von Allen wohl aufgenommen worden; auch wisse er sich, seit dem Beckerschen Liede: „Sie sollen ihn nicht haben,“ keines so freudigen Abends, und keiner so erregten Theilnahme, bei irgend einem Vortrage zu erinnern.“ – Obschon ich diesem Beifall mehr der Sache und jetzigen Stimmung, als meinem Liede zu verdanken zu haben glaube; so fand ich doch die beiden Abaenderungen, namentlich die Letzte, so praktisch, daß ich nicht veräumte, sie, durch den Zettel, dem bereits fertigen Liede noch anzuverleiben. Zu dem Op. 25. veranlaßten mich die Aeußerungen mehrerer Freunde, welche meinten: „so ein Lied müsse man auch 2stimmig singen können, weil nur wenige Gelegenheit hätten es 4stimmig auszuführen. – Trotz meiner langen Litanei, erlauben Sie mir, – einmal im Zuge – noch ein paar musikalische Vorfälle aus meiner Jugend, mitzutheilen, deren ich mich stets gern erinnere. – Kurz nach dem die Schillier-Rombergsche Glocke bekannt und hier zum erstenmal aufgeführt worden war, wobei ich als Tenorist und Celloist und meine Stiefbrüder Niedern(???) als 1ster und 2ter Geiger mitwirkten, reißten der Aeltere N. und ich, gleich am Morgen nach dem Concert, in einem gräßlichen Stöberwetter – zu Pferde wie’s damals üblich war – nach Braunschweig zur Lichtmesse. – Einer Mädchenschau wegen, nahmen wir den Umweg über Göttingen und kamen am 2ten Abend, ganz erschöpft von Weg und Wetter, daselbst an. – Im Hotel fanden wir eine Gesellschaft Studenten, die sich bei einem Glase Bier wohl sein ließen, während wir aßen, und sich lebhaft unterhielten. – Das Thema war „die Glocke“ und die große Mehrzahl behauptete: „daß an der Romberg’schen Musik nicht sein könne, weil das Gedicht für die Composition viel zu schön, und nicht lyrisch sei. – Wir hörten dies eine Weile mit an; – Mit einemmale aber riß mir – noch ganz voll von dem Eindruck welchen die erste Aufführung auf Jedermann gemacht hatte, – die Geduld, und ich rief dazwischen: „kennen Sie die Musik, meinere Herren?“ – Ein allgemeines: „Nein!“ erschall; – „Nun dann urtheilen sie nicht so hochgelehrt und querfeldein, ohne solche gehört zu haben! – Wir kommen aber von einer Aufführung, und sind noch ganz entzückt davon!“ – Die minaramen(???) Parthie stimmte uns, jubeld, zu; Die Sprache der Gegenparthie wollte ihre Gelehrsamkeit aber nicht lächerlich gemacht wissen, und so wurde der Streit so hitzig, daß es zuletzt wohl zu Thätlichkeiten gekommen sein würde, wenn nicht die Stammgäste und der Wirth, Ruhe geboten, und wir dann unser Schlafzimmer aufgesucht hätten. Ich habe viel Schönes in aller Art von Musik, namentlich in der Zeit wo ich die Messen noch besuchte, gehört, und ca 50 Jahre lang das Concert und größere kirchliche Aufführungen mit dirigirt und selbst mit executirt, auch eine Menge Opern-Sachen16 und andere Musigen in meinen Privatconcerten ausgeführt. – Die mehrsten der großen Virtuosen auf allen17 Instrumenten, so wie Sänger und Sängerinnen (darunter den noch nicht übertroffenen Tenoristen Gerstäcker) gehört. – Einige dieser Concerte sind mir besonders werth in der Erinnerung geblieben. Darunter ist ein Gewandhaus-Concert in Leipzig, wo Sie durch ihr seelenvolles Violinspiel, blos von der Harfe Ihrer Frau Gemahlin und Hermbstaedts köstlicher Clarinette begleitet, – mich und das ganze Publicum entzükten. Es war dies das einzige Mal, daß ich Sie gesehen habe; sonst habe ich noch Ihr „Vater Unser“ was hier früherhin mehrfach gegeben worden, mir am P.forte wieder näher gebracht. – Paganinis Kunststücke brachten, das Erstemal, Erstaunen und gewaltigen Enthusiasmus in mir hervor; das 2te mal erregten sie mich weit weniger; das 3te mal nahm ich sie beinahe18 mit Gleichgültigkeit hin. – Duette von der Clara Novello und der Grabau sind mir noch in sehr werthen Andenken; Letzte hat auch hier ein paar Mal bei kirchlichen Aufführungen mit gesungen. In ganz neuerer Zeit habe ich 3 Stunden, der Clara Schuhmann (deren scharfen Unterricht Ihres Vaters ich oft beiwohnte) und Joachims Violin Spiel mit dem größten Interesse zugehört. – Bei der ersten Aufführung des Schneiderschen „Weltgerichts, so wie des Palus von Mendelssohn, war ich anwesend; sonst bei vielen Aufführungen von Oratorien, Männergesangfesten hier und auswärts;19 sobald ich frei von Krankheit mich befand (wo ich alle Musik, außer dem Choral, fliehe und selbst, bei Jahreleanger Dauer, keinen Griff auf dem P.forte thue). Mancherlei ernste und komische musikalische20 Vorfälle habe ich mir dabei bemerkt die Stoff zu Anekdoten lieferten; – Erlauben Sie mir nur noch Einer zu erwähnen. – Auf allen Meßplätzen werde ich, namentlich während des Winters wo es weniger zu arbeiten gab, meines guten Tenors wegen, zu Gesang-Parthien, oft in die vornehmsten Circel eingeladen. In Leipzig war ein sehr guter Verein von Beamten, Studenten, Kaufmannsdienern(???) etc, die, unter Pohlenz’es Direktion, Opern sangen. Da aber auch die Damenstimmen von Tenoristen gesungen werden mußten,so waren derselben im Verhältniß zu den Bässen meist zu wenig. Einer meiner Freunde bewog mich daran Theil zu nehmen. – Wie wir eintraten, hatte man eben die erste Oper vollendet und der Don Juan sollte aufgelegt werden. Die Vorstellung war sehr kurz; dann fragte Pohlenz, der gehört, daß ich sehr hoch und sicher sänge: „– Getrauen Sie sich die Elvira zu singen?“ Ich antwortete: „die Elvira, Anna, das Zerlinchen, den Don Ottavio, Don Juan, und, – im Nothfall auch den Leporello und Masetto, denn ich kann den ganzen Don Juan auswendig. Es war dies keine Prahlerei von mir; denn ich hatte zugleich die Töne des Bariton und hatte auch mitunter den Leporello und Masetto zur Aushülfe einmal gesungen. – Pohlenz schien diese Rede aber etwas zu verdrießen und er erwiderte blos: „Nehmen sie die Elvira, wir werden ja hören! – Von Anfang gab’s für mich nichts21 zu thun; denn Sopran Airen wurden, wenn nicht besonders interessant, aus Schonung für die Tenoristen, weggelassen. Im Quartett „fliehe des Schmeichlers glattes Wort“ winkte er mir22 schon sehr freundlich zu; – Als aber das Terzett, „Gieb Kraft zu dieser Stunde“ obgleich durch 3 Tenoristen, aber herrlich, beendet war, und ich meine Elvira recht gut durchgeführt hatte, konnte sich Pohlenz, der meine Verhältnisse nicht kannte, nicht länger halten; – Er sprang ganz in Extase, vom Flügel auf, nahm mich beim Kopfe, herzte und drückte mich, und sagte: „Die sind23 ja ein herrlicher Kerl! – Sie müssen zur Oper! – Noch ein bischen Schule, und ich schaffe Ihnen 1000 Rth. Gehalt, und Aussicht auf noch viel mehr, wenn Sie vollends ausgebildet sind und sich auf dem Theater zu nemen wissen! – Ich antwortete natürlich: „daß ich dazu keine Lust habe, und die Musik blos zu meinem Vergnügen betriebe; – Im Gesang gar keinen Unterricht, im PnoForte u Cello demselben blos ½ Jahr erhalten, als Junge schon, die Bravour-Arie24 der Königin de Nacht aus der Zauberflöte gesungen und mir dies nur vom Hören vieler guter Musik abgemerkt habe. – Er bedauerte hierauf, höchst komisch, daß ich nicht ein Student oder sonst ein armer Teufel sei, dem er zu seinem Glück verhelfen25 und dem Theater zugleich eine gute Acquisition verschaffen könne. Später wurden wir besser bekannt und er kam bei größeren Aufführungen in der Kirche, einigemal mit hoher, um Vor- und Zwischenspiele auf unserer schönen Orgel zu übernehmen. – Er logirte, da ich schon verheirathet war, bei mir, und wir haben noch mancmal über unser erstes Zusammentreffen und seine Wuth mich aufs Theater zu bringen, herzlich gelacht. –
Leider hat Leipzig, das seine Verdienste, als Dirigent, Organist, Clavier- aber namentlich Gesang-Lehrer so viel zu verdanken hatte, dies, in späterer Zeit, schlecht vergolten, und er ist, aus Gram hierüber, wohl früher als es sonst geschehen wäre, hinüber gegangen. – Ich werde mich nun ehestens über die Revision ds Orchesters „der Todtenfeier“ machen, muß aber bevorraten: „daß ich auch die Instrumentirung nur durch eigenes und Anderer Spiel, vom Hören was die verschiedenen Instrumente leisteten und durchs Lesen mehrerer guter Partituren und eigene Versuche gelernt und begriffen habe. – Componirt hatte ich schon längt, als mir erst Zeit wurde, die Anfangsgründe des Generalbasses einzusehen. Demnach waren in diesen Arbeiten keine groben Fehler, denn mein Gehör ließ mich schon Quinten und Octvaven sofort(???) vermeiden.
Zum Schluße, noch die Mittheilung, daß, als ich, vor einige Tagen, in meinen alten, vergessenen, Compositionen krame, mir noch 4 Partituren in die Hände kommen, die wenigstens etliche 40 Jahre alt sind, Darunter befinden sich 2 Motetten, eine Hymne über den Sonnen-Aufgang, und – Schillers „Lied an die Freude“ für Soli und Chor, durchcomponirt. Das ganze Vermächtniß war gar nicht uebel, und rührte noch von meinen frischesten Jahren her; – besonders aber interessirte mich Schillers köstliches Lied, weil dies noch, wie ich mich wieder erinnerte, mit dem vorhin erwähnten Studentenstreit in Göttingen zusammen hing. – Die Chroniken desselben behauptete auch26 an jenem Abende nämlich: „noch weniger als „die Glocke“ könne „das Lied an die Freude“ componirt werden,27 weil es noch weniger lyrisch sei; auch wären bereits gemachten Versuche gescheidert28. Ich entgegnete zwar: daß die mir bekannten 2 Compositionen darum nicht Anklang haben finden können, weil man zu29 allen Versen nur eine Melodie gesetzt habe, die Erstern aber ungemein verschiedenen Inhalts30 seien und dies dem Gesangs-Publikum,31 bei einem so schönen Texte, bald angewidert haben müssen. – Den Studenten zum Trotz, setzte ich mich später hin, um das Lied zu componiren; fand dabei aber daß sie doch so unrecht nicht gehabt hätten; denn Schillers grosrartiger Text, wo fast jedes Wort, wenn man es treu wiedergeben sollte, in der Musik betont werden mußte, machte mir ungeheuer zu schaffen; – da mir andere Arbeiten darin kamen, konnte ich es auch nicht instrumentiren, sondern führte es nur ein Paarmal zum Flügel auf wo die Kräfte von32 den Solo-Stimmen nicht ganu ausreichten. Ich legte es nun zurück, und jetzt erst kam es wieder zum Verschein.
Sie können sich denken, daß ich zuerst mit Begier darüber her fiel, und es – nach kleinen Abaenderungen so schmakhaft fand, daß ich kaum erwarten kann, bis ich Zeit bekomme es einzustimmen und – hätt es dann noch Farbe – gedruckt zu sehen. – Ist’s fertig, erlaube ich mir die Zusendung eines Exemplars, und bin begierig Ihre Meinung über Behandlung und Auffassung des, allerdings fast zu gedrängt grosartigen Stoffes, zu hören. Meine Bitte kann nur noch die sein: daß Sie mir meine langen Herzens-Ergießungen verzeihen und mich ein wenig im Andenken behalten mögen. Mein sehnlichster Wunsch ist33, Ihnen bald mündlich sagen zu können, welche innige Freude es mir macht, mich

mit der vorzüglichsten Hochachtung
nennen zu dürfen
Ew. Wohlgebohren
ganz ergebensten Carl Overweg.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Overweg, 17.12.1854. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Overweg an Spohr, 05.01.1856.

[1] Rechts unten auf dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „NAUMBURG / 27 / 1 / 11-12“, rechts unter dem Adressfeld der Stempel „NAUMBURG / 27 / 1 / PACKK.“, links daneben der Aufkleber „634“, links über dem Adressfeld der Stempel „D 1 / 29 1“.

[2] Abk. f. „anno currens“ (lat.) = „laufendes Jahr“.

[3] Hier gestrichen: „erwartet“.

[4] Carl Ferdinand Overweg

[5] Vgl. F.G., Rez. „Compositionen von C. Overweg“, in: Neue Zeitschrift für Musik 43 (1855), S. 276ff., hier S. 277.

[6] „dies für“ über der Zeile eingefügt.

[7] „Satz“ über der Zeile eingefügt.

[8] Hier ein Wort gestrichen.

[9] Hier gestrichen: „mit“.

[10] „überreichten“ über der Zeile eingefügt.

[11] „gesehen hatte“ über der Zeile eingefügt.

[12] Hier gestrichen: „besuchen fahre(???)“.

[13] Hier gestrichen: „Baues“.

[14] Hier gestrichen: „worden“.

[15] Noch nicht ermittelt.

[16] „-Sachen“ über der Zeile eingefügt.

[17] Hier eine Silbe(?) gestrichen.

[18] „beinahe“ über der Zeile eingefügt.

[19] Hier gestrichen: „dabei“.

[20] „musikalische“ am linken Seitenrand eingefügt.

[21] Hier ein Wort gestrichen („wird“?).

[22] Hier gestrichen: „aber“.

[23] „sind“ über gestrichenem „haben“ eingefügt.

[24] „Bravour-“ über der Zeile eingefügt.

[25] Hier gestrichen: „könne“.

[26] „auch“ über der Zeile eingefügt.

[27] Hier gestrichen: „weil“.

[28] Sic!

[29] „zu“ über der Zeile eingefügt.

[30] „Inhalts“ über der Zeile eingefügt.

[31] Hier gestrichen: „bald“.

[32] „von“ über gestrichenem „zu“ eingefügt.

[33] „ist“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (29.03.2022).