Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

den 22ten Januar 1855.
7. Rathhausstrasse.
Hamburg.

Hochgeehrter Herr Kapellmeister,

Eine recht große Freude hat es mir gemacht, daß Sie sich meiner stets mit der alten Freundschaft erinnern, wie mir aus den Schlußzeilen Ihres Briefes1 an meinen Freund Schmidt wieder so recht klar hervorleuchtet. Wir haben uns nun schon recht lange mit der Erinnerung an Sie, lieber Herr Kapellmeister, begnügen müssen, da Sie im letzten Sommer nicht wieder nach London gegangen sind, und so würde ich unendlich glücklich sein, wenn meine Pläne in Erfüllung gingen, da ich dann auch Sie auf ein paar Tage besuchen würde. Ich erhalte nämlich so überaus betrübende Nachrichten aus London, daß die Kriegsereignisse2 jeden Gedanken an Musik unmöglich machten, und bei der allgemeinen Trauer die Noblesse wohl gar nicht zum Frühjahr zu Stadt kommen werde, daß ich unter so ungünstigen Umständen unmöglich in diesem Jahre nach England gehen kann, und mich überhaupt nach und nach mit dem Gedanken vertraut machen muß, irgendwo eine passende Anstellung anzunehmen, um von einer solchen aus dem Verlaufe dieser politischen Wirren in Ruhe zusehen zu können.
Vor einigen Tagen erhielt ich von der Kreis-Ersatz-Commission zu Berlin die Aufforderung, mich am 29ten d. M. zur Untersuchung zu stellen, und wenn, mein Gott, es geben möge, ich wenigstens vorläufig für dienstuntauglich erklärt werde, gedenke ich gleich jetzt, zur Ausführung meines obengenannten Planes, eine Rundreise durch Deutschland zu bewerkstelligen, um mich mit den bedeutendsten musikalischen Autoritäten bekannt zu machen, und alte Bekanntschaften wieder anzuknüpfen, so daß ich, bei einer etwa eintretenden Vacanz eher hoffen darf, berücksichtigt zu werden. Ich gehe dann von Berlin zunächst nach Wien, wo ich an Carl Eckert und Vieuxtemps einflussreiche und wohlwollende Freunde habe; von dort nach München, um den Bruder des hiesigen Kapellmeisters Lachner kennen zu lernen; dann nach Stuttgart, wo ich Lindpaintner schon von London her kenne; dann nach Cassel, wo ich ein paar Tage bleibe, um den lieben Kapellmeister Spohr und auch den alten Freund Knoop wieder zu sehen, und zuletzt nach Hannover, wo ich in Joachim, Kömpel und Prell gewiß noch die guten Freunde von früher wiederfinden werde.
Meine Mutter, die Sie und Frau Kapellmeister recht herzlich grüßen läßt, wird mich auf dieser Reise nicht begleiten, außer nach Berlin, wo sie ihrer schlechten Augen wegen den Dr Gräve zu konsultiren gedenkt.3 Wenn durch die von Ihnen so freundlich dargebotenen Anstellung in Cassel Schmidt wirklich fortgehen sollte, bleibt nichts in Hamburg, was mich hier zu fesseln vermögte.
In der freudigen Hoffnung, Sie, lieber Herr Kapellmeister, recht bald in Cassel zu begrüßen, verbleibe ich, mit freundlichen Grüßen an Frau Kapellmeister

Ihr treu ergebener
Bernard Hildebrand-Romberg.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hildebrand-Romberg, 15.10.1853. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hildebrand-Romberg an Spohr, 16.03.1855.

[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[2] Krimkrieg 1853-1856.

[3] Vgl. Ig[naz] Meyr, „Mittheilungen über den Zustand der Augenheilkunde in Grossbritannien und Irland, Belgien und Frankreich im Jahre 1853“, in: Zeitschrift der k.k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien 10 (1853), S. 433-462, hier S. 434.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (22.02.2024).