Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Mueller von der Werra:3
Inhaltsangabe: Simon Moser, Das Liedschaffen Louis Spohrs. Studien, Kataloge, Analysen, Wertungen. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Kunstliedes, Kassel 2005, Bd. 1, S. 75

St. Gallen, d. 16. Nov. 54.

Hochgeehrtester Herr!

Entschuldigen Sie bestens, daß ich erst heute Ihren mir so lieben Brief vom 15ten August beantworte. Sie haben mir durch die wunderherrlichen Composition über mein Lied „Mein Verlangen“ eine so große und unbeschreibliche Freude bereitet, daß ich nicht genug Worte des Dankes dafür finden kann. Das Lied ist mein Leiblied geworden und ich bin dadurch sehr oft und viel im Geiste bei Ihnen, bedaure nur herzlich, daß es mir nicht vergönnt ist, Sie von Angesicht zu Angesicht näher zu kommen, – nun hoffentlich wird mir diese Freude vielleicht noch einmal zu Theil werden.
Ich glaubte nicht, daß der Druck des „Liederhort“1 sich so verzögern werde und hoffte weit früher das Bändchen Dichtungen senden zu können und nur deshalb wurden meine Antwort verschoben – heute bin ich so glücklich Ihnen den Liederhort zu übermachen und es soll mich freuen, wenn Sie noch manches Schöne darin finden. Zu großem Dank wäre ich Ihnen verbunden wenn Sie mir Ihr Urtheil hinsichtlich des Liederhortes zukommen ließen.
Anbei erhalten Sie auch noch einen neueren „Müller“: Dieser junge Mann, dessen Familie ich gut kenne, ist zwar tod – aber seine Werke werden noch lange von seinem Talent zeugen. Warum ich Ihnen diesen Band sende, sollen Sie in Kürze vernehmen.
Die Hauptkirche der Stadt St. Gallen war sehr baufällig und ist nach dem Entwurf dieses Müllers (siehe pag. 962) neu restaurirt oder besser gesagt, fast neu gebaut worden.3 Dieser prachtvolle Bau, einer Zierde der Stadt, wurde – mit neuem Thurme und neuen Glockengeläute (in as dur) nach vier Jahren am letzten Palmsonntag das erstemal wieder zur sonntäglichen Feier eröffnet. Die Einweihungsfeierlichkeiten waren einfach, aber im Moment bleibt uns unvergesslich, förmlich das Oratorium: „Die letzten Dinge“. Ihre Tondichtung wurde von der hiesigen frohsinnigen Gesellschaft unter Leitung des H. Musikdirektor Bogler sehr gelungen ausgeführt, denn in dieser Gesellschaft – dessen Männerchor schon einmal den 1sten Preis beim eidg. Sängerfest erworben – sind sehr gute Kräfte – es mögen an 80 Singstimmen mitgewirkt haben, dabei waren die Quartette und Soli sehr gut vertreten4. Merkwürdig war es, wie dieses hohe Tonwerk in den Hallen einer neuen zum Erdrücken gefüllten Kirche die verschiedenen Glaubensbekenntnisse liebend vereinte. Die erste Sopranstimme war von einer Madame Sachs (Jüdin) vertreten. Diese Sängerin war mehrere Jahre auf einem Conservatorium und hat eine vortreffliche Stimme – gerade wollte sie Glück als Primadonna auf der Stuttgarter Bühne versuchen, da hört sie ein reicher Kaufmann und hascht der Bühnenwelt diesen guten Bissen hinweg. Madame Sachs ist eine große Verehrerin Ihrer Oratorien und hat sich sehr gefreut, durch mich von Ihnen etwas zu hören, wofür Sie mir das Lied „Mein Verlangen“ gesungen. die Direction und ein Theil der Singkräfte waren katholisch – und das wollte hier viel heißen, in der reformirten neuen Kirche zu singn! Der übrige Theil von reformirter Art und gar Zwinglianer und Lutheraner. Ob vielleicht auch ein Heide da unter dem Personen, ist mir unbekannt.
Das ganze Tonwerk hat auf alle Anwesenden jenen mächtigen Eindruck gemacht – ich sah manches, gar manches Auge feucht. – Bald darauf wurde auf allgemeinen Wunsch des Publikums das Oratorium im hiesigen Chorsingsaale zum 2tenmale aufgeführt5 und als im August das vorige deutsche Dorf Kappel mit seinen beiden Kirchen mit Stumpf und Stil – bis auf 3 Häuser – vom Feuer verzehrt wurde6, so öffneten sich dem herrlichen Oratorium die Pforten der Laurenzenkirche abermals und führte dadurch den Unglücklichen eine nahmhafte Summe zu.7
Für große Freude habe ich mit Ihrem werthen Briefe hier in einer mir sehr lieben Familie gehabt. H. Pfarrer Schmiedt, Prof. am hiesigen Gymnasium, ist ein großer Musikfreund und seine kleinen Kinder zeigen alle ein mehr oder weniger herausragendes musikalisches8 Talent. Dieselben sind nun große Verehrer Ihrer Streichermusik und wurden auch nach Ihrer Violinschule gebildet, als ich nun von Ihnen die Zeilen zeigte, waren die Kinder so erfreut, als sei es Weihnachten und baten mich Sie in Ihres Vater Namen zu grüßen, was ich hiemit gerne thue, da die Kleinen sehr fleißig sind und schon ganz wacker Quartette ausführen.
Mit Freuden sehe ich einer gütigen Antwort – um die ich Sie freundliche bitte – entgegen und verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr
ergebenster
FrMüller.

Autor(en): Müller von der Werra, Friedrich Conrad
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Bogler, Bernhard
Müller, Johann Georg
Sachs (Sopran)
Schmied, Johann Jakob
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die letzten Dinge
Spohr, Louis : Lieder, Sgst Kl, WoO 122
Erwähnte Orte: St. Gallen
Erwähnte Institutionen: Frohsinnige Gesellschaft <St. Gallen>
Hoftheater <Stuttgart>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1854111648

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Müller, 15.08.1854.
Müller  zufolge beantwortete Spohr diesen Brief nicht (vgl. „Spohr und sein Schwanengesang“, in: Sängerhalle 1 (1861), S. 207ff., hier S. 208).

[1] Friedrich Conrad] Müller von der Werra, Der Liederhort. Dichtungen, St. Gallen 1854.

[2] Ernst Förster, Johann Georg Müller. Ein Dichter- und Künstlerleben, St. Gallen 1851, S. 96-99.

[3] Vgl. Die St. Laurenskirche wird nach den Plänen von J.G. Müller, eines 1849 zu Wien gestorbenen begabten Architecten, hergestellt“ (K[arl] Baedeker, Die Schweiz. Handbuch für Reisende, nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen bearbeitet, 5. Aufl., Koblenz 1854, S. 262).

[4] Vgl. „St. Gallen, den 8. April“, in: St. Galler Zeitung (1854). S. 340.

[5] Vgl. „Wir haben aus dem ,Tagblatt‘ vernommen, daß unsere gestrengen Kirchenfürsten dem ,Frohsinn‘ die Thüren der neuen Kirche zu einer Wiederholung der Gesangaufführung vom letzten Sonntag verschlossen haben. [...]“ (“Eingesandt“, in: St. Galler Zeitung (1854). S. 359f.; s.a. Konzertanzeige ebd., S. 360).

[6] Vgl. „Die Brandstätte von Kappel“, in: St. Galler Zeitung (1854). S. 708.

[7] Vgl. „St. Gallen“, in: ebd., S. 827.

[8] „musikalisches“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.07.2021).