Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck 1: Louis Spohr, Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 366ff.
Druck 2: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 154-157
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff

((Cassel den 5ten November 1854.

Geliebter Freund,

Ihrem Wunsche, einen Brief von mir zu erhalten, kommt mein Verlangen, Ihnen einmal wieder zu schreiben entgegen. [...]
Bott hat mir Ihre Grüße überbracht und ich habe mich gefreuet, daß er Sie und die lieben Ihrigen wohl und vergnügt angetroffen hat. Er war auch in Dresden, und hat dort bey dem Chordirector Fischer einen Blick in die neue Oper Wagner's „Das Rheingold“ gethan, und mir allerley davon erzählt. Selbst seinen eifrigsten dortigen Bewunderern wird doch die Anhäufung des Efektapparates in dieser neuesten Arbeit Wagner's ein wenig zu arg, und der alte Fischer hat kopfschüttelnd geäußert: er fürchte sehr, es werde ihm am Ende gehn, wie Schumann!1 Es sind 24 Sologeigen in der Partitur, die zu 8+12, 16 und 24 losgelassen werden; am Gesäusel wird's daher nicht fehlen. Aber auch an Apparat zum Lärm fehlt es nicht, an Contrasten ist daher kein Mangel! Ich wünschte in der That noch zu erleben, was aus diesem Treiben in unserer Kunst am Ende noch werden wird, und ob es möglich ist, daß es sich Bahn bricht!))
<Bott>'s Oper hat sich hier wirklich ein Publikum gewonnen2, und ich bin nun gespannt zu sehen, ob es auswärts, wo man sich nicht persönlich für ihn interessirt, auch der Fall seyn wird. Gewiß ist, daß seine Oper, als ein erster Versuch in dieser Gattung, große Beachtung verdient. Es ist mehr gute Musik, übersichtliche Form, und rhytmisches Geschick darin, als in den Wagner'schen Opern, und doch gehört sie leider im Styl ganz der sogenannten Zukunftsmusik an! Da ist auch nicht ein Anklang an Mozart'sche, Beethoven'sche oder Cherubini'sche Musik; nur Wagner, Meyerbeer und allenfalls Marschner scheinen auf ihn eingewirkt zu haben. Es ist mir dieß bey der Begabung Bott's ein völliges Räthsel, denn er hat doch von frühester Jugend an Gelegenheit gehabt die Meisterwerke der genannten 3 Komponisten kennen zu lernen; wie kommt es nun, daß er nicht eben so davon erfüllt ist, wie wir und alle Künstler unserer Periode? Es muß mit dem Zeitgeschmack seyn, wie mit der Cholera; wer dafür empfänglich ist, der entgeht der Ansteckung nicht. <Daß ich nun, nach dem oben Gesagten, doch keine rechte Freude an der Bott‘schen Oper haben kann, werden Sie schon gemerkt haben. Obgleich 4-5 Nummern, besonders zwei Chöre und auch einige Recitative, recht gute formelle und wohlklingende Musik haben, so ist das Ganze doch zu überladen, zu unruhig und zu lärmend. Besonders hat er den einen Galeerensclaven, der kein Charakter, sondern nur ein ordinärer Dieb und Bösewicht ist, mit Allem, was es an scheußlichen Accordfolgen und Blechlärm nur giebt, ausgestattet, und man ist froh, wenn der Kerl endlich von Gensd‘armen niedergeschossen ist. Die Uebertreibung abgerechnet, ist die Musik aber dramatisch und nicht unsangbar, sondern recht dankbar für die Sänger, trotz dem, daß sie nicht eine Coloratur enthält. Bott hat überhaupt viel Geschick für die Auffassung des Scenischen gezeigt, und da seine Erfindung nicht dürftig ist, so läßt sich noch besseres, wie diese erste Arbeit von ihm erwarten.>
((Ich habe mich seit der Rückkehr von der Ferienreise mit einer, für mich ganz neuen, Arbeit beschäftigt.)) Von Peters3 aufgefordert, die Etudes de Violon von Fiorillo für eine neue Ausgabe durchzusehen, kam ich auf den Gedanken, diese Übungsstücke für die Violine allein mit einer Begleitungsstimme für den Lehrer zu versehen, und sie, nach meiner Weise bezeichnet, als Anhang zu meiner Violinschule herauszugeben. Ich bin nämlich von Lehrern, die nach meiner Schule unterrichten, schon oft aufgefordert worden, die Übungsstücke derselben zu vermehren, und habe zu dieser Arbeit nie rechte Lust gehabt. Nun hielt ich es für ein leichtes, zu den Fiorillo'schen Etuden eine 2te Stimme zu setzen, und glaubte damit bald fertig werden zu können; aber ich hatte mich geirrt. Ich fand falsche Rhytmen, fehlerhafte Modulationen, und must mich schon entschließen, sie abzuändern, ja einige förmlich umzuarbeiten, damit abgerundete und wohlklingende Musikstücke daraus wurden. Bey der Gelegenheit habe ich dann auch das beseitigt, was in den Verzierungen und in der Vortragsweise veraltet ist. Ich bin nun einigermaaßen in Zweifel, ob ich dazu berechtigt war; doch glaube ich es damit entschuldigen zu können, daß der Verfasser schon lange todt ist, und sein Werk in Frankreich wie Deutschland als Gemeingut betrachtet wird. Wie die Übungen nun geworden sind, hätte ich keine bessern Neuen schreiben können, und so glaube ich doch, daß die 3 Monath, die ich darauf verwendet habe, etwas Verdienstlichem und Nützlichem gewidmet worden sind. ((- Nun, nachdem ich in ein paar Tagen damit fertig seyn werde, drängt es mich aber, mich wieder in eigenen Erfindungen zu beschäfftigen. So werde ich denn, da in der nächsten Woche unsere Quartettparthien beginnen, wohl zunächst ein Quartett oder Quintett schreiben.
Den dießjährigen Cäcilientag verwenden wir zu einer Aufführung zum Besten des Krankenpflege-Vereins, und werden dieselbe mit Ihrer „Cantate am Cäcilientage" beginnen, die wir mit großem Vergnügen und großer Sorgfalt neu eingeübt haben
Mit herzlicher Liebe stets Ihr

Louis Spohr.))



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 21.04.1854. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 06.01.1855.
Der Text ist aus beiden Textfassung kompiliert. Ergänzungen von Druck 1 gegenüber Druck 2 sind mit doppelten runden Klammern (( )) kenntlich gemacht, Ergänzungen von Druck 2 gegenüber Druck 1 mit dreieckigen < >.
Uhlendorffs Inhaltsangabe ergänzt die Textüberlieferung teilweise: „Über Jean Joseph Botts Oper Der Unbekannte, die zum Geburtstag des Kurfürsten, am 20. August 1854, uraufgeführt und dann wiederholt im Kasseler Hoftheater geboten worden war. Ferner über Wagners Rheingold, Spohrs 8. Symphonie und die von ihm mit zweiter Stimme herausgegebenen Etudes de Violon de Fiorillo.“

[1] Robert Schumann lebte zu diesem Zeitpunkt in der Irrenanstalt in Endenich.

[2] Vgl. „Tagesgegeschichte“, in: Neue Zeitschrift für Musik 41 (1854), S. 128ff., hier S. 130; „Tagesgegeschichte“, in: ebd., S. 152f., hier S. 152; „Literatur- und Kunstnotizen“, in: Didaskalia 30.08.1854, nicht paginiert.

[3] Spohr spricht hier vom Verlag. Inhaber war zu dieser Zeit Karl Gotthelf Böhme. Der erwähnte Brief ist Böhme an Spohr, 04.08.1854.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (10.02.2017).

Bott's Oper hat sich hier wirklich ein Publikum gewonnen, und ich bin nun gespannt zu sehen, ob es auswärts, wo man sich nicht persönlich für ihn interessirt, auch der Fall sein wird. Gewiß ist, daß seine Oper, als ein erster Versuch in dieser Gattung, große Beachtung verdient. Es ist mehr gute Musik, übersichtliche Form, und rhytmisches Geschick darin, als in den Wagner'schen Opern, und doch gehört sie leider im Styl ganz der sogenannten Zukunftsmusik an! Da ist auch nicht ein Anklang an Mozart'sche, Beethoven'sche oder Cherubini'sche Musik; nur Wagner, Meyerbeer und allenfalls Marschner scheinen auf ihn eingewirkt zu haben. Es ist mir dieß bey der Begabung Bott's ein völliges Räthsel, denn er hat doch von frühester Jugend an Gelegenheit gehabt die Meisterwerke der genannten 3 Componisten kennen zu lernen; wie kommt es nun, daß er nicht eben so davon erfüllt ist, wie wir und alle Künstler unserer Periode? Es muß mit dem Zeitgeschmack seyn, wie mit der Cholera; wer dafür empfänglich ist, der entgeht der Ansteckung nicht. Daß ich nun, nach dem oben Gesagten, doch keine rechte Freude an der Bott‘schen Oper haben kann, werden Sie schon gemerkt haben. Obgleich 4-5 Nummern, besonders zwei Chöre und auch einige Recitative, recht gute formelle und wohlklingende Musik haben, so ist das Ganze doch zu überladen, zu unruhig und zu lärmend. Besonders hat er den einen Galeerensclaven, der kein Charakter, sondern nur ein ordinärer Dieb und Bösewicht ist, mit Allem, was es an scheußlichen Accordfolgen und Blechlärm nur giebt, ausgestattet, und man ist froh, wenn der Kerl endlich von Gensd‘armen niedergeschossen ist. Die Uebertreibung abgerechnet, ist die Musik aber dramatisch und nicht unsangbar, sondern recht dankbar für die Sänger, trotz dem, daß sie nicht eine Coloratur enthält. Bott hat überhaupt viel Geschick für die Auffassung des Scenischen gezeigt, und da seine Erfindung nicht dürftig ist, so läßt sich noch besseres, wie diese erste Arbeit von ihm erwarten. [...]
Von Peters aufgefordert, die Etudes de Violon von Fiorillo für eine neue Ausgabe durchzusehen, kam ich auf den Gedanken, diese Übungsstücke für die Violine allein mit einer Begleitungsstimme für den Lehrer zu versehen, und sie, nach meiner Weise bezeichnet, als Anhang zu meiner Violinschule herauszugeben. Ich bin nämlich von Lehrern, die nach meiner Schule unterrichten, schon oft aufgefordert worden, die Übungsstücke derselben zu vermehren, und habe zu dieser Arbeit nie rechte Lust gehabt. Nun hielt ich es für ein leichtes, zu den Fiorillo'schen Etuden eine 2te Stimme zu setzen, und glaubte damit bald fertig werden zu können; aber ich hatte mich geirrt. Ich fand falsche Rhythmen, fehlerhafte Modulationen, und muste mich schon entschließen, sie abzuändern, ja einige förmlich umzuarbeiten, damit abgerundete und wohlklingende Musikstücke daraus wurden. Bey der Gelegenheit habe ich dann auch das beseitigt, was in den Verzierungen und in der Vortragsweise veraltet ist. Ich bin nun einigermaaßen in Zweifel, ob ich dazu berechtigt war; doch glaube ich es damit entschuldigen zu können, daß der Verfasser schon lange todt ist, und sein Werk in Frankreich wie Deutschland als Gemeingut betrachtet wird. Wie die Übungen nun geworden sind, hätte ich keine bessern Neuen schreiben können, und so glaube ich doch, daß die 3 Monath, die ich darauf verwendet habe, etwas Verdienstlichem und Nützlichem gewidmet worden sind.

Cassel den 5ten November 1854.
Geliebter Freund,
Ihrem Wunsche, einen Brief von mir zu erhalten, kommt mein Verlangen, Ihnen einmal wieder zu schreiben entgegen. [...]
Bott hat mir Ihre Grüße überbracht und ich habe mich gefreuet, daß er Sie und die lieben Ihrigen wohl und vergnügt angetroffen hat. Er war auch in Dresden, und hat dort bey dem Chordirector Fischer einen Blick in die neue Oper Wagner's „Das Rheingold“ gethan, und mir allerley davon erzählt. Selbst seinen eifrigsten dortigen Bewunderern wird doch die Anhäufung des Efektapparates in dieser neuesten Arbeit Wagner's ein wenig zu arg, und der alte Fischer hat kopfschüttelnd geäußert: er fürchte sehr, es werde ihm am Ende gehn, wie Schumann! Es sind 24 Sologeigen in der Partitur, die zu 8+12, 16 und 24 losgelassen werden; am Gesäusel wird's daher nicht fehlen. Aber auch an Apparat zum Lärm fehlt es nicht, an Contrasten ist daher kein Mangel! Ich wünschte in der That noch zu erleben, was aus diesem Treiben in unserer Kunst am Ende noch werden wird, und ob es möglich ist, daß es sich Bahn bricht!
*'s Oper hat sich hier wirklich ein Publikum gewonnen, und ich bin nun gespannt zu sehen, ob es auswärts, wo man sich nicht persönlich für ihn interessirt, auch der Fall seyn wird. Gewiß ist, daß seine Oper, als ein erster Versuch in dieser Gattung, große Beachtung verdient. Es ist mehr gute Musik, übersichtliche Form, und rhytmisches Geschick darin, als in den Wagner'schen Opern, und doch gehört sie leider im Styl ganz der sogenannten Zukunftsmusik an! Da ist auch nicht ein Anklang an Mozart'sche, Beethoven'sche oder Cherubini'sche Musik; nur Wagner, Meyerbeer und allenfalls Marschner scheinen auf ihn eingewirkt zu haben. Es ist mir dieß bey der Begabung *'s ein völliges Räthsel, denn er hat doch von frühester Jugend an Gelegenheit gehabt die Meisterwerke der genannten 3 Komponisten kennen zu lernen; wie kommt es nun, daß er nicht eben so davon erfüllt ist, wie wir und alle Künstler unserer Periode? Es muß mit dem Zeitgeschmack seyn, wie mit der Cholera; wer dafür empfänglich ist, der entgeht der Ansteckung nicht. [...]
Ich habe mich seit der Rückkehr von der Ferienreise mit einer, für mich ganz neuen, Arbeit beschäftigt. Von Peters aufgefordert, die Etudes de Violon von Fiorillo für eine neue Ausgabe durchzusehen, kam ich auf den Gedanken, diese Übungsstücke für die Violine allein mit einer Begleitungsstimme für den Lehrer zu versehen, und sie, nach meiner Weise bezeichnet, als Anhang zu meiner Violinschule herauszugeben. Ich bin nämlich von Lehrern, die nach meiner Schule unterrichten, schon oft aufgefordert worden, die Übungsstücke derselben zu vermehren, und habe zu dieser Arbeit nie rechte Lust gehabt. Nun hielt ich es für ein leichtes, zu den Fiorillo'schen Etuden eine 2te Stimme zu setzen, und glaubte damit bald fertig werden zu können; aber ich hatte mich geirrt. Ich fand falsche Rhytmen, fehlerhafte Modulationen, und muste mich schon entschließen, sie abzuändern, ja einige förmlich umzuarbeiten, damit abgerundete und wohlklingende Musikstücke daraus wurden. Bey der Gelegenheit habe ich dann auch das beseitigt, was in den Verzierungen und in der Vortragsweise veraltet ist. Ich bin nun einigermaaßen in Zweifel, ob ich dazu berechtigt war; doch glaube ich es damit entschuldigen zu können, daß der Verfasser schon lange todt ist, und sein Werk in Frankreich wie Deutschland als Gemeingut betrachtet wird. Wie die Übungen nun geworden sind, hätte ich keine bessern Neuen schreiben können, und so glaube ich doch, daß die 3 Monath, die ich darauf verwendet habe, etwas Verdienstlichem und Nützlichem gewidmet worden sind. — Nun, nachdem ich in ein paar Tagen damit fertig seyn werde, drängt es mich aber, mich wieder in eigenen Erfindungen zu beschäfftigen. So werde ich denn, da in der nächsten Woche unsere Quartettparthien beginnen, wohl zunächst ein Quartett oder Quintett schreiben.
Den dießjährigen Cäcilientag verwenden wir zu einer Aufführung zum Besten des Krankenpflege-Vereins, und werden dieselbe mit Ihrer „Cantate am Cäcilientage" beginnen, die wir mit großem Vergnügen und großer Sorgfalt neu eingeübt haben
Mit herzlicher Liebe stets Ihr
Louis Spohr.