Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Schletterer,H.M.:04

Hochwohlgeborner
Hochgeehrtester Herr Hofkapellmeister!

Zu Ende des vorigen Jahres beehrte ich mich Ew. Hochwohlgeboren die Mittheilung von meiner Anstellung als academischer Musikdirektor in Heidelberg zu machen. Seit zehn Monaten nun lebe ich hier und war in dieser Zeit eifrig bestrebt musikalisches Leben und Interesse für die Tonkunst anzulegen und zu erwecken. Leider aber muß ich täglich mehr zu der Überzeugung kommen, desto mehr meine Bemühung en in dieser Beziehung so vergeblich sein werden, als diejenigen meiner Vorgänger. Es ist nämlich hier mehr ein gemischter Chor, noch ein anständiger Männerchor, weder ein Orchester, noch ein erträgliches Streichquartett zusammen zustellen. In der ziemlich großen und schönen Stadt fehlt aller Wille, alle Mittel um künstlerische Bestrebungen zu unterstützen zu können oder das einzige Sinnen der materiellen Bewohner von hier geht eben nur dahin, sich auf Kosten der vielen Fremden möglichst zu bereichern und möblirte Wohnungen zu vermiethen.
So kenne ich hier nur drei Familien in welchen gerne musicirt wird, aber auch da ist man entweder auf einer ganz kleinen Chor, oder höchstens ein Klaviertrio beschränkt.
Als ich mich um die hiesige Stelle bewarb wurden mir wohl Aussichten auf einen anständigen Gehalt gemacht; aber diese Vorspiegelungen(?) wurden meinen Vorgängern nicht erfüllt1 und nach den Erfahrungen, die ich bis jetzt gemacht hab, erwarte ich mit Gewissheit ein ähnliches Verfahren. So bleibt dem academischen Musikdrektor nur der leere Titel und es ist, will er irgend anständig bestehen, darauf angewiesen, seine ganze Zeit dem Musikunterrichte zu widmen. Eine derartige Stellung ist aber hier, wo man eben auch als Musiklehrer blos auf Fremde angewiesen ist, sehr unsicher und zudem bei der hiesigen theuren Lebensweise für einen Familienvater sehr unzureichend. Das Schlimmste jedoch bleibt2 unter diesen Umständen der gänzliche Mangel an Zeit und Kraft zu anderer Beschäftigung und zu musikalischer Fortbildung(?), nach welcher Seite hin diese nun auch erstrebt werden soll.
Unter diesen unangenehmen Verhältnissen wäre mir eine neue Veränderung und Verbesserung meiner Stellung unendlich wünschenswerth, und es drängt mich den gegenwärtigen Moment zu benutzen, der wohl günstiger so bald nicht wiederkehren dürfte. Unter andern Stellen ist die Kapellmeisterstelle in Rudolstadt erledigt.3 Ich würde mich gerne um dieselbe bewerben; um es aber mit günstigem Erfolge thun zu können, bedürfte ich einer einflußreichen, gewichtigen Empfehlung und hier nun wage4 ich es Ew. Hochwohlgeboren die höfliche Bitte auszusprechen, meine Wünsche und Bestrebungen mit einigen empfehlenden Worten gütigst unterstützen zu wollen. So viel ich weiß, liegt die Sache in den Händen Sr Excellenz des F.H.5 von Bertrab wirklichen Gemeinem Raths und Ministers in Schwarzburg-Rudolstadt. Sollte dieser Herr Ew. Hochwohlgeboren nicht persönlich bekannt sein, so dürften Sie sich an dem Kassel so nahegelegenen fürstlichen Hofe wohl einer andern einflussreichen Person erinnern.
Würde ich so glücklich sein meine hier ausgesprochene Bitte von Ihnen, geehrter Herr, erfüllt zu sehen, so würde ich unverzüglich in nächster Woche die Reise nach Rudolstadt antreten. Seit meinem Weggange von Kassel war ich unablässig bemüht, mich praktisch und theoretisch weiter zu bilden; ich habe bis jetzt Anstellungen der verschiedensten Art gehabt und mich als Opern- und Concertdirigent, als ausübender Musiker und Lehrer nach allen Seiten hin versucht, so daß ich wohl der Hoffnung leben darf, einer gütigen Empfehlung von Ew. Hochwohlgeboren Ehre machen zu können.
Der letzte werthe Brief, mit dem Sie mich beehrten, eröffnete mir die freudige Aussicht, Sie im Laufe des Sommers hier begrüßen zu können. Leider ist mir dies frohe Glück nicht zu Theil geworden. Oder sollten Sie vielleicht in der Zeit, wo ich an einem hartnäckigen Augenübel wochenlang krank darnieder lag, Heidelberg doch berührt haben? Die schwerste(?) Zugluft in allen hiesigen Straßen sagt überhaupt meiner Gesundheit nicht zu, und ist dieser Übelstand eine nähere Ursache, mich von hier wegzusehnen.
Indem ich meine Wünsche Ihrer fernern gütigen Beachtung empfehle und Ew. Hochwohlgeboren höflichst um Entschuldigung und Nachsicht bitte wenn ich mir erlaube Ihnen fernere Bemühungen zu verursachen, ersuche ich Sie mir noch für die Zukunft ein freundliches Wohlwollen zu bewahren.
Mit vollkommenster Hochachtung und Verehrung

Ew. Hochwohlgeboren
ganz ergebenster
H.M.Schletterer

Heidelberg, den 12ten Oct. 1854.

Autor(en): Schletterer, Hans Michael
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Bertrab, Hermann Jakob von
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Heidelberg
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Rudolstadt>
Universität <Heidelberg>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1854101240

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Schletterer, 15.12.1853. Spohr beantwortete diesen Brief am 15.10.1854.

[1] Zu den Verhandlungen der Besoldung der Heidelberger Universitätsmusikdirektoren vgl. Harald Pfeiffer, Heidelberger Musikleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1989, S. 51f.

[2] Hier gestrichen „jedoch“.

[3] Am 01.10.1854 wurde der bisherige Hofkapellmeister Friedrich Müller in den Ruhestand versetzt (vgl. Ute Omonsky, „Die Rudolstädter Hofkapelle in der Zeit des bürgerlichen Musiklebens vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Musik am Rudolstädter Hof. Die Entwicklung der Hofkapelle vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Ute Omonsky (= Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte 6), Rudolstadt 1997, S. 209-239, hier S. 228). Die Stelle erhielt Hermann Hesselbarth (vgl. Omonsky, S. 236).

[4] „wage“ über der Zeile eingefügt.

[5] Abkürzung für „Freiherr“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.11.2017).