Autograf: nicht ermittelt
Druck: Alfred Bock, „Ein Besuch bei Louis Spohr“, in: Hessenland 27 (1913), S. 283ff., hier S. 284 (teilweise)

Mein Freund Knoop bewillkommnete mich in Kassel mit kollegialischer Herzlichkeit und sagte mir, um halb elf Uhr sei Trioprobe bei Spohr. Ich bat ihn, mich zu diesem Stern erster Größe mitzunehmen, was auch nach eingeholter Erlaubnis bei Spohr geschah. Als ich den Garten betrat, worin des Meisters idyllisch gelegenes Haus erbaut ist, wurde ich von Gefühlen der Ehrfurcht bewegt, es überkam mich eine heilige, religiöse Stimmung, die nur der begreifen kann, der die Kraft und Gewalt des Genius zu würdigen versteht. Spohr ist ein Mann von kolossaler Statur mit markierten, wohltuenden Zügen, er trägt eine lichtbraune Perücke. Er kam mir ernst und würdig entgegen und wies mir einen Platz an. Frau Spohr ist eine Matrone von ungefähr sechzig Jahren, ohne in ihrem Äußeren etwas Hervorstechendes zu haben. Spohr, seine Frau und Knoop trugen ein Trio vor, das mich in Enthusiasmus versetzte. Am meisten Eindruck aus mich machte Spohrs Violinspiel. Dieser erhabene Greis erschien mir als ein Verklärter. Seine Physiognomie korrespondiert stets mit dem Charakter der jeweiligen Musik, düstere Wolken umziehen die Stirn, sie werden immer heller, ein heiteres glückliches Lächeln spielt um seine Lippen – kurz, es ist ein Hochgenuß, den Altmeister geigen zuhören. Später kam eine junge Dame, Fräulein Weinrich, die auch trefflich Klavier spielt. Nach der Matinee nahm uns Spohr mit hinunter, führte uns in sein Kompositionszimmer und dann in den Garten. Ich konversierte mit ihm eine Stunde. Als Kuriosum muß ich Dir berichten, daß mir Spohr auch seine Badeanstalt zeigte, die von sehr praktischer, zweckmäßiger Einrichtung ist. Der liebe Mann lud mich auf den andern Abend ein, ich konnte jedoch wegen meiner Abreise nichts annehmen.

Autor(en): Bock, Siegmund
Adressat(en): Bock, Ottilie
Erwähnte Personen: Knoop, Huldreich
Spohr, Louis
Spohr, Marianne
Weinrich, Marie
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Kassel
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1854091599

Spohr



Das Briefdatum ergibt sich aus der Einleitung zum Druck: „Im September 1854 wurde er durch den Musiker Knoop in Kassel bei Spohr eingeführt. Über seinen Besuch bei dem Meister schrieb er meiner Mutter, seiner damaligen Braut“.

[1] Zu diesem Zeitpunkt war die 1807 geborene Marianne Spohr noch nicht einmal 50 Jahre alt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (31.05.2021).