Autograf: Stadtbibliothek Leipzig (D-LEst), Sign. PB 6
Sr. Wohlgeb.
Herrn Musikdirector
Ferdinand Böhme
in
Dordrecht
Holland.
frei
Cassel den 20sten
April 1854.
Hochgeehrter Herr,
Den herzlichsten Dank für Ihre freundlichen Glückwunsch zu meinem 70sten Geburtstage. Er wurde dieses Jahr, wahrscheinlich wegen der runden Summe meiner nun verlebten Jahre, von meinem hiesigen musikalischen Freunden, und der Kapelle nebst dem Theater durch Aufführung mehrerer Kompositionen in unserm Garten, am Vorabend desselben, besonders glänzend gefeiert, und am andern Morgen liefen Gratulationsschreiben in großer Anzahl aus allen Gegenden Deutschlands ein. Diese allgemeine Theilnahme erfreute mich sehr, und so war es kein Wunder, daß ich, troz der 70 Jahre, den Tag sehr vergnügt erlebte.
Sie wünschen Näheres über meine neuesten Arbeiten zu erfahren, und gern willfahre ich diesem Wunsche und nenne sie Ihnen der Reihe nach. Da Sie aber das Sextett für Saiteninstrumente und das Quartett-Concert, von welchem Sie in englischen Blättern gelesen haben, noch nicht zu kennen scheinen, so muß ich wohl vor einigen frühern Jahren beginnen. Im Jahr 1848 schrieb ich allso jenes Sextett, welches hier bey Luckhardt gestochen ist, und ein Rondo für Pianoforte. 49, das 31te Violinquartett (ebenfals bey Luckhardt,) das 5te Claviertrio (bey Schuberth in Hamburg gestochen,) 3 Lieder aus „Tausend und ein Tag im Orient“1 von Bodenstedt,2 das 7te Quintett für Streichinstrumente, (gestochen bey Peters,) und einen Festgesang für Chor und Altsolo mit 4händiger Clavierbegleitung zu Feier der silbernen Hochzeit meiner Tochter Ida. Im Jahr 51, 6 Salonstücke für Violine und Pianoforte, ein Lied für Sopran3 und das 32ste Violinquartett. Im Jahr 52, die Rezitative und Zusätze zu der Oper „Faust“ für das italiänische Theater in London. Im vorigen Jahre habe ich nur ein Werk geschrieben, nämlich ein Septett für Pianoforte, Violine, Violoncell, Flöte, Clarinette, Horn und Fagott, und in diesem bis jetzt nur ein Duett für 2 Violinen. Alle diese zuletzt genannten Sachen werden noch in diesem Jahr bey Peters in Leipzig erscheinen. Sie sehen, daß es mich nur noch selten treibt, etwas neues zu schreiben, und daß die Arbeitslust der frühern Jahre bedeutend nachgelassen hat. Mein Interesse an der Kunst ist aber noch die alte, und in unsern Musikparthien trage ich noch immer, wie früher, meine eigenen Violinkompositionen selber vor.
Es that mir sehr leid, das Musikfest in Rotterdam, wozu ich von dem Comité freundlichst eingeladen wurde4, nicht besuchen zu können, da ich eine längst5 projektirte Reise in die sächsische Schweiz, die ich mit meiner Frau während der Ferienzeit zu machen beabsichtige, unmöglich aufgeben kann, da ich ihretwegen ein abermaliges Engagement nach London bereits abgelehnt habe. Es that mir besonders leid, da ich auch Sie, wie ich aus Ihrem Briefe ersehe, dort getroffen haben würde. Doch habe ich die Hoffnung, daß wir Sie recht bald einmal wieder hier sehen werden.
Meine Frau und Herr Bott(, der seit vorigem Jahr zum 2ten Kapellmeister ernannt ist,) erwiedern Ihre Grüße auf das freundlichste.
Mit wahrer Hochachtung
Ihr
ergebener
Louis Spohr.
Dieser Brief ist die Antwort auf Böhme an Spohr, 03.04.1854. Böhme beantwortete diesen Brief am 03.04.1855.
[1] WoO 119.
[2] Hier gestrichen: „und“.
[3] Möglicherweise „Glockenklänge“ für eine Singstimme und Klavier WoO 118.
[4] Dieser Brief ist derzeit verschollen.
[5] „längst“ über der Zeile eingefügt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (09.09.2020).