Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Scortleben bei Weissenfels in der Provinz
Sachsen den 4. April 1854.

Hochgeehrter Meister,
Hochgeehrtester Herr General-Musikdirector!

Wie aus einem goldenen Thor treten morgen, edler Greis, 70 Jahre zur Harmonie so sanft verwoben durch Gottes Gnade hervor. Ihres Herzens Saiten beben leise, und Ihr kindlich stiller Dank steigt zu dem empor, dessen Güte Sie so herrlich geführt, der mit Ihnen war bis hieher, und der Sie lehrte himmlisch schöne Weise. In voller jugendlicher Frische u. schaffender Kraft stehen Sie, erhebener Meister, auch heute noch einem Adler gleich, der verjüngt sich zu dem Sonnenlicht aufgeschwungen, sich über die Strömungen der Sonderkunst1. Möge Gott diese jugendliche Kraft in Ihrem Alter Ihnen noch recht lange so frisch erhalten! Dieses ist meines meines Herzens heiligster Wunsch für Sie dem Allmeister der Tonkunst, dessen hoher Geistesschwung und liebliche Harmonien mich als Kind schon begeisterten. Von Ihrem Geiste, genährt u. gehoben(?) erschloß sich mir ein neues Seelenleben, u. Sie allein wurden in der Tonkunst mir das Ideal was in der theologischen Wissenschaft auch für mich2 Heinrich Zschocke geworden, dessen geistige Verwandtschaft mit Ihnen, Herr General-Musikdirector, überall nachzuweisen ist. Verzeihen Sie daher, wenn ich nun dem Drange des Herzens folgend aus Dankgefühl gegen Sie meinem geistigen Wohlthäter es wage an Ihrem siebenzigsten Geburtstage in die Reihe der Beglückwünschenden mich zu stellen. Ach, wie gern wäre ich gerade diesmal nach Cassel geeilt, um des Glücks theilhaftig zu werden an diesem für Sie so wichtigen Tage meine Wünsche persönlich Ihnen darzubringen! Aber die bevorstehenden Feiertage mit ihren vielen Geschäften für einen Prediger treten hindernd in den Weg. Damit aber Ihr 70ster Geburtstag für uns Ihre Verehrter ein Festtag sei, so werde ich morgen zur Aufführung bringen 1., Ihr Double Quatuor No. 1 Opus 65 aus D. 2., das von Ihnen mir geschenkte Clavier-Trio No V.; endlich werde ich aufführen Ihr Vaterunser für gemischten Chor. Ihr liebes Bild wird dabei im schönsten Schmucke des Immergrün prangen. Möge uns Gott zu des Immergrün schönsten Deutung sein Amen sagen; dies ist mein innigster Wunsch.
Empfangen Sie zugleich für Ihren lieben Brief u. das mir gütigst geschenkte herrliche fünfte Clavier Trio meinen herzlichsten Dank. Dies Geschenk hat mich überaus sehr erfreut, weil es die eigene Handschrift des größten Meisters der Tonkunst unserer Zeit enthält. Durch diesen schönen Beweis Ihres Wohlwollens gegen mich ermuthigt, wage ich abermals mit derselben Bitte vor Sie zu treten, die ich bei meiner Anwesenheit in Cassel gethan habe. Es ist nämlich ein Lieblingswunsch von mir als Geistlichen, daß die evangelische Kirche für ihren Gottesdienst zum Altargesang vor der Ausspendung des heiligen Abendmahls gerade von Ihnen für eine Männerstimme u. zwar Tenor oder Bariton mit Orgelbegleitung des Vater unser u. die Einsetzungswort componirt erhielte. Ich würde für den Druck durch das Consistorium in Magdeburg selbst Sorge tragen. Auf diese Weise würde ich zugleich einen Anknüpfungspunkt viele Ihrer Compositionen aus den Oratorien, welche ich für Männerstimmen gesetzt habe, hie u. da einzuführen. So habe ich eben jetzt wieder den Chor aus den letzten Dingen „Selig sind die Todten“, in B dur für Männerchor u. Solos gesetzt. Nicht wahr, Herr General-Musikdirector, Sie sind so gütig u. verewigen sich auch in einer solchen Composition für die Kirche? In ihrem letzten Briefe sprechen Sie auch Ihr Interesse über mein Musiktreiben aus, was mir höchst schmeichelhaft ist. Ich wirke auch jetzt noch in hiesiger Gegend eifrig fort u. habe die große Freude, daß die Verehrter Ihres classischen Compositionen sich dort u. fort mehren; u. die Freunde der Modernen u. Modeartikel schwinden. Neben Ihren Compositionen u. denen Beethovens spielen wir die Sachen von Mendelssohn u. Schumann. Mehrmals monatlich habe ich in meinem Hause Clavier-Trios. Interessant war vor einiger Zeit3 die Vergleichung des Trios opus 49 von Mendelssohn mit dem Trio von Schumann opus 63. Dem Schumann wurde vor Mendelssohn doch der Preis zuerkannt. Es ist doch sehr zu beklagen, daß Schumann so früh geschieden ist. Ich halte das Clavier Quintett, die große Clavier-Sonate op 11 Floristan u. Eusebius No. 2 Fism. u. das Trio in Dm opus 49 für das Beste, was Robert Schumann in der Art geschrieben. Friede seiner Asche!
Indem ich Ihrer so oft gedenke u. im Geiste Ihnen stets nahe bin, flehe ich auch heute vor Gott für Sie Gesundheit und alles Wohlergehen. Ich grüße Sie daher, hoher Herr, von ganzem Herzen recht inniglich, u. bitte auch ferner mir Ihr Wohlwollen zu schenken, das mich so glücklich macht.
Mit ausgezeichneter Hochachtung verharrend unterzeichnet

Ew. Hochwohlgeboren
innigster Verehrer u. Jünger
Heinrich Weber Pfarrer.



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Weber, 07.04.1853. Spohrs Antwortbrief vom 23.04.1854 ist derzeit verschollen.

[1] Vgl. Spohr an Weber, 07.04.1853.

[2] „mich“ über der Zeile eingefügt.

[3] „Zeit“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.09.2017).