Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 40f.

Leipzig, den 3. März 1854.

Lieber Herr Kapellmeister.

Sie werden dies an Ihrem lieben Geburtstage erhalten. Er wird ein herzlich fröhlicher festlicher sein, wie er es immer war, und wie ich so glücklich war viele in Ihrer Nähe mit zu feiern. Möge Gottes Güte Sie uns noch lange so erhalten in der Kraft und ungeschwächten Thätigkeit und Theilnahme für alles Gute und Schöne. — Mit unser Aller herzlichstem Danke, sende ich Ihnen hierbei das Septett zurück. Es ist am vorigen Donnerstage, in der letzten Quartettsoiree mit dem allerbesten Erfolge producirt worden, es ging ganz vortrefflich und fand den einstimmigsten Beifall. Moscheles hat die Clavierparthie gespielt , wie man es wohl nicht besser wünschen kann. Ebenso waren die Blasinstrumente aufs beste besetzt und wurden mit Discretion und Energie, beides wo es hingehört, ausgeführt; für Geige und Violoncell ist es nicht nöthig zu sagen.1 Wir haben Clavierspieler wie Sand am Meere, die es Moscheles gleich oder zuvor zu thun meinen, die ihn wie einen alten, abgethanen Herrn als „überwundenen Standpunct“ achten und mit etwas Achtung für seine ruhmvolle Vergangenheit, für seine früheren Leistungen, die der früheren Zeit genügen konnten, alle zu verlangende Schätzung zu gewähren meinen. Wie sind diese doch weit davon, zu erkennen, was Moscheles als ächt künstlerischer Virtuos leistet, wie Alles an seinem Spiel durchgebildet, wie nie und nirgends ein rohes Material darin übrig ist. In einem Wald von Bäumen hat nicht nur der einzelne Baum, es hat auch jedes kleinste Blättchen an ihm sein organisch durchgebildetes lebendiges Leben. Es kommt oft vor und ist sprüchwörtlich geworden, daß der Wald vor Bäumen nicht gesehen wird. Die jungen Clavier-Virtuosen sehen aber die Bäume nicht vorm Wald; noch weniger was am einzelnen Baum für sich gegliedert und seine Lebensbedingung ist: wie das Glied nur im Ganzen, das Ganze nur in seinen Gliedern lebendige Wirklichkeit hat und haben kann, im Vortrag wie in der Composition. Dieser geistige Durchblick für das Einzelne im Ganzen ist das Genie des Vortrags. Beim gewöhnlichen Virtuosen ist ein Triller ein Triller, ein Mordent ein Mordent; wie verschieden aber solche Sachen in verschiedenen Musikstücken werden, hört man erst beim Virtuosen-Künstler, dem alle technische Herrschaft erst Mittel wird zum Ausdruck der Wahrheit, zu etwas ganz Anderm als blos glänzender Virtuosität, wenn man dieser nicht selbst den höheren Sinn genialen Vortrags beilegen will; der Verstand allein thut's hierbei freilich nicht, aber Verständniß ist nöthig und „wer sich das Genie ohne Verstand denkt“, sagt Jean Paul, „der denkt sich eben ohne Verstand.“2

Autor(en): Hauptmann, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Jean Paul
Moscheles, Ignaz
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Septette, Fl Klar Fg Hr Vl Vc Kl, op. 147
Erwähnte Orte: Leipzig
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1854040333

Spohr



Der letzte belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 16.03.1854. Spohrs nächster belegter Brief vom 21.04.1854 ist vermutlich die Antwort auf diesen Brief.
Da Spohr am 05.04. Geburtstag hatte und der Brief von einem Konzert am 30.03.1854 berichtet, kann das angegebene Briefdatum 03.03.1854 unmöglich stimmen. Einen Postweg von mindestens zwei Tagen vorausgesetzt, wäre ein Briefdatum 03.04.1854 jedoch gut denkbar.

[1] Vgl. F.S., „Leipzig. Sechstes und letztes Abonnement-Quartett im Saale des Gewandhauses am 30sten März”, in: Neue Zeitschrift für Musik 40 (1854), S. 162; [Charlotte Moscheles], Aus Moscheles Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, Bd. 2, Leipzig 1873, S. 251.

[2] Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1815, S. 65.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.02.2017).