Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Albrecht:9

Hochverehrter Herr Hofkapellmeister!

Vors Erste sey die Mittheilung, daß ich bei Entfaltung Ihres letzten geehrten Schreibens und darauf noch zwei Wochen nicht schreibfähig war. Ein fieberhafter Zustand, dessen Ursache Schleimanhäufung und Übertritt der Galle in das Blut war, machte mich für alle Geschäfte untüchtig. Dann war es von den drei Gegenständen, welche der natürliche Stoff dieses Schreibens seyn werden – nämlich meiner Symphonie und des unbefriedigenden Erfolges derselben – dann meiner Reise nach Kassel – endlich meiner künstlerischen Beschäftigung für die nächste Folgezeit – der letztern, welcher meine Antwort noch länger verzögert hat, weil ich eben auf diesen mir wichtigen Punkt Ihnen schreiben wollte, und ein ganz verständiger, nützlicher Entschluß mir nicht leicht wurde.
Hochverehrter Herr Hofkapellmeister! das, was Sie in Kassel bereits für mich gethan haben, nebst dem, was ich, bei Ihnen angekommen, noch erwarten darf, ist das bedeutendste Ereignis, welches ich in meinem Berufe erlebt habe, und überhaupt wird eines der bedeutendsten Ereignisse meines Lebens; und so ist das einfache Wort des Dankes, welches ich gegen Sie ausspreche, auch ein Wort des wahren, innigsten Dankes, und ich bin von der Anerkennung dessen, wofür ich danke, ganz durchdrungen. Und ich bitte Sie: Haben Sie Geduld mit mir; verlieren Sie das Vertrauen zu mir nicht! Ich werde Ihnen am Ende doch Ehre machen. Und ich habe Niemand als Sie!
Gegen Ihre Beurtheilung und Verurtheilung meiner Symphonie habe ich natürlich gar nichts zu sagen; ich habe nur davon zu lernen; und das thue ich auch. Glücklich bin ich, daß ich die Wahrheit so unumwunden gehört habe; dies wird mir für die Zukunft einen besseren Takt verleihen. Sie haben sehr recht, hochverehrter Herr Hofkapellmeister! Mein Symphonie hätte vorerst eine ohne irgendwelche besondere Nebenbezeichnung ganz tüchtige Composition seyn müssen, um genügen zu können, – und der poetische Stoff, welchen ich zu Grunde legte, verdarb das Alles, weil seine Wahl eine verfehlte war. Demnach ist also die Symphonie, so wie sie jetzt ist, verwerflich, und es fragt sich sehr, ob sie – wenn auch nicht ganz genügend – doch genügender, als sie jetzt ist, umgebessert werden könnte. Hierüber, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, bin ich so frei, Sie anzufragen; ich erkläre aber jetzt gleich, daß diese Anfrage nicht die mindeste Einbildung oder Eigenliebe meiner Arbeit zu Grund liegt, und daß ich einzig und alleine gerade durch die von Ihnen speciell hervorgehobenen Ursachen des Tadels auf die Idee einer Verbesserung der Symphonie gekommen bin, und zwar in einer Weise, daß dieselbe alsdann nicht ein mühseliges, charakterloses Flickwerk würde, sondern nur eine vielleicht bedeutende Anzahl ihrer Mängel abstreifte, ohne nur zu erhalten.
Ein von Ihnen besonders hervorgehobener Mangelist der der Dürftigkeit der Erfindung. Wenn ich nun besehe, wieviele lange Abschnitte ich mit irgend einer Verwendungsweise des immer nämlichen Motivs gearbeitet habe, so kommt mir der Gedanke, daß wohl durch einfache Abkürzung oder Auslassung solcher Abschnitte, welche dem Sinn des Ganzen keinen Eintrag thäte, jener Mangel bedeutend vermindert werden könnte. So könnte z. B. von dem 89ten Takte des ersten Satzes sogleich auf den 142ten Takt wie in N. 1 der Notenbeilage übergegangen, und ähnlich bei der Wiederholung des nämlichen Abschnitts im zweiten Theile nach N. 2 der Notenbeilage verfahren werden. Ebenso könnte im zweiten Theile der ganze Abschnitt übergegangen, und nach der vorhergehenden zweiten Fermate des Thema’s sogleich, wie in N. 3 der Notenbeilage fortgefahren werden. Eine kleine Aenderung im Einsatze der Stimmen würde diesem im Motiv, Modulation und Sinn geselligen Satze leicht vereinigen. Ferner könnte der Abschnitt im zweiten Theil des ersten Allegro kürzer wie in N. 4 gefaßt werden. Auf der mit dem 21ten Takt vom Anfange an beginnende Satz könnter kürzer gefaßt und ihm seine monotone Breite genommen werden, wenn man Takt 31 bis Takt 44 ausließe, und vielleicht die Violinen, statt genau den Rhythmus des Hauptmotivs von ihnen geben zu lassen, bis zur Fermate auf a: V7 in lauter Achtelnoten führt, wie in N. 5. Oder wenn man nach der zweiten Fermate von Anfang aus, also vom 21ten Takte weg, mit Auslassung von 39 Takten sogleich nach dem Satze überginge? Dies wäre auch nach dem Sinn des Ganzen gemäß. Oder eine Überleitung zu dem Satze etc. von der Fermate auf a: V7 weg in kürzerer Weise, wie etwa in N. 6? Dies wäre nun freilich eine wesehntliche Änderung; ob eine zweckmäßige?1
Anlaß zu ähnlichen Abkürzungen oder Auslassungen würden sich auch bei den anderen Sätzen der Symphonie ergeben. Und was den vierten Satz derselben anbelangt, in welchem ich in einer nicht musikalischen Idee die rein musikalischen Erfordernisse wohl am meisten, und sehr mit Unrecht, untergeordnet habe, – dieser vierte Satz könnte nun gerade ganz wegbleiben.
Ein anderer Fehler, den Sie an meiner Arbeit besonders gerügt haben, besteht in der theils zu leeren, theils überladenen Harmonie, und in mancher allzuherben Stimmfortschreitung. Meine Absicht nun war es gewiß nicht, daß Manches so gar hart klingen sollte. So sollte sich z. B. in den zuerst von Blasinstrumenten allein vorgetragenen Mittelsatze des ersten Allegro auch nicht eine einzige wirklich herbe Fortschreitung hervorthun; vielmehr sollte dieser Satz nur eine sanfte elegische Färbung haben. Könnten aber alle hier einschlagenden Sätze nicht leicht verbesert werden, wenn man sie harmonisch mehr oder minder nicht auftreten ließe, oder die Härte einzelner Harmoniefolgen oder Stimmenschritte einfach wegnähme? –
Über die Form im Allgemeinen äußerten Sie, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, daß dieselbe, trotz des widerstrebenden poetischen Stoffs, welcher der Symphonie so zu Grunde lag, noch übersichtlich und regelmäßig genug ausgefallen wäre. Würde aber nicht die Form an Übersichtlichkeit noch gewinnen durch die vorhin besprochene Abkürzungen oder Auslassungen einzelner Abschnitte? – Und endlich – wenn an einigen Stellen der Inhalt und die modulatorische Gestaltung sogar wesentlicher verändert würde, wie dies schon in N. 6 der Notenbeilage geschehen ist, – könnte nicht auch durch ähnliche Veränderungen die Form im Ganzen gewinnen, ohne daß die innere Wahrhaftigkeit des Ausdruckes litte?
Und – um die Absicht alles bisherigen kurz zu fassen –: Könnte nicht aus der breiten, ungenügenden „Symphonie zu Werthers Leiden“ eine kürzere, den Kunstanforderungen genügendere einfache „Symphonie in D moll“ werden?
Wie gerne wollte ich doch jede engere Beziehung meiner Arbeit zu dem bewußten poetischen Stoffe aufgeben! Dieser Stoff ist Ursache, daß ich so oft unmusikalisch in dieser Symphonie geworden bin, er ist auch Ursache, daß ich in derselben so wenig Polyphonie entwickelte, zu welcher ich doch sonst so viel Neigung habe.
Den Fall nun gesetzt, meine Besserungsvorschläge wären nicht blose Einbildungen, sondern es wäre in fraglicher Symphonie wirklich genug guter Stoff vorhanden, so daß es sich noch der Mühe lohnte, eine Veränderung mit derselben vorzunehmen, so möchte ich es gerne wagen dürfen, hiefür, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, Ihre Meisterhand in Anspruch zu2 nehmen, und Sie zu bitten, zu diesem Zwecke die Partitur gelegentlich noch einmal durchzusehen, und darin zu ändern, zu streichen, – mit derselben Alles zu machen, was Sie wollen, denn so wie sie ist, hat sie keinen Werth, werde für mich, noch für Andere.
Was meine Reise nach Cassel betrifft, so ist dieselbe fest beschlossen, und ich bin Ihnen unendlich dankschuldig, daß Sie, nachdem ich Ihrer Erwartung so wenig entsprochen habe, dennoch bei Ihrer großmüthigen Zusage bleiben.
Zwar nicht gern warte ich bis zum Frühjahr, aber dennoch glaube ich, Ihrem Rathe folgen zu müssen, schon deßhalb, weil ich dann während unserer gewöhnlichen Ferien der Bezirksschule und der Gesangvereine reisen kann, und also nicht um einen außerordentlichen Urlaub nachzusuchen brauche. Diesen hätte ich freilich gern erhalten, wenn ich statt dieser unglücklichen Werther Symphonie eine andere Composition geliefert hätte, welche würdig gewesen wäre, von Ihnen, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, Ihrem Concertpublikum vorgeführt zu werden. –
Daß ich Ihnen, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, so gar lange nicht antwortete, hatte, meine Krankheit abgerechnet, folgenden Grund: – Ich wurde durch Ihr letztes geehrtes Schreiben gar nicht entmuthigt, vielmehr außerordentlich angeregt, etwas Verständigeres und Besseres zu leisten. Und ich wollte es sogleich versuchen. Ich nahm die Ausarbeitung einer neuen Symphonie (in G Dur) zu Hand. Dies sollte eine klare, frische, gedankenreiche, regelmäßige Arbeit werden; Form und Wohlklang und Mannigfaltigkeit sollten mein alleiniges Augenmerk seyn. Dann wollte ich gleich den ersten vollendeten Satz Ihnen übersenden und Sie fragen, ob ich mich jetzt gebessert hätte, und ob ich in diesem Sinne fortarbeiten sollte. Aber – ein paar Wochen haben einen anderen Entschluß herbeigeführt. Ich verbarg es mir nicht, wie ich es ja leicht abermals verfehlen könne, wie ich jedenfalls bei meinem Mangel an sinnlicher Erfahrung in der Kunst wieder mehr oder weniger mich über den Effekt dessen, was ich schreiben würde, täuschen müßte, und wie3 ich ja für die nächsten Monate Stoff genug zu nützlicher Beschäftigung habe, indem ich entweder Partituren studire – gegenwärtig Ihre 4te Symphonie4, oder mich in den höheren polyphonen Formen übe. Und so entschloß ich mich – einstweilen gar Nichts zu komponiren. Große Selbstüberwindung kostete mich dieser Entschluß, aber ich glaubte, ihn nicht scheuen zu dürfen, weil ich ihn für den gegenwärtig verständigsten anerkennen mußte. –
Das ist eine große Traurigkeit, die ich täglich erfahre, daß zahlreiche Tonbilder in mir noch werden, mich erregen, – und ich sie nicht in lebendigen musikalischen Organen ausprägen kann, wie ich wollte, – wie ich jetzt nur ahne, daß ich es wohl könnte! –
Ich schließe nun mein Schreiben mit der nochmaligen Bitte, Sie, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, möchten meiner nicht müde werden, und mein aufrichtiges Streben nach gediegener Kunstleistung, welchem Ihr Tadel ebenso willkommen ist als Ihr Lob, Ihnen noch ferner so viel werth seyn lassen, als es bis jetzt der Fall war.
Den sämmtlichen geehrten Mitgliedern Ihrer Hofkapelle, welche meinetwegen eine außerordentliche Bemühung hatten, empfehle ich mich unbekannterweise hochachtungsvoll; gegen Sie, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, verharre ich aber insbesondere in tiefster Hochachtung

Ihr
ergebenster und dankbarster
Moritz Albrecht,
(Musiklehrer in Murten, Canton Freiburg,
in der Schweiz.)

[Mur]ten, den 19 Dec. 1853.

Was für Thaler und Groschen gemeint waren, wußte ich nicht, konnte dasselbe auch nicht mit Sicherheit erkundigen. Sollte nun die entfolgende Beilage in Geld zu gering seyn, so versteht es sich von selbst, daß ich meinen Irrthum verbessern werde, sobald mir derselbe bekannt seyn wird. Unterdessen danke ich verbindlichst für die Auslage, welche Sie für mich zu machen, die Güte haben wollten. –

Autor(en): Albrecht, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Albrecht, Moritz : Sinfonien, D-Moll
Albrecht, Moritz : Sinfonien, G-Dur
Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1853121943

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Albrecht.
[1] Hier gestrichen: „Ferner wieder könnte der lange Abschnitt etc. im ersten Theile kürzer wie in N. gefasst werden; und ähnlich im zweiten Theile“.

[2] „zu“ über der Zeile eingefügt.

[3] „wie“ über der Zeile eingefügt.

[4] Die Weihe der Töne.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.12.2023).