Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Albrecht:8

Hochverehrter Herr Hofkapellmeister!

Leider sende ich mehrere Tage später, als ich versprochen hatte, Partitur nebst Stimmen, und letztere nicht einmal vollständig, ein. Wegen dieser Verzögerung und Unvollständigkeit will ich mich gleich am Anfange meines Schreibens rechtfertigen. Ich wollte es recht gut machen und die Arbeit vollständig noch vor dem 15ten October einsenden; deßhalb suchte ich die Beihülfe eines Kopisten. Zuerst versuchte ich es mit einem Berner Musiker; dieser lieferte die ersten Abschriften spät und so schlecht, daß ich sie als unbrauchbar bei Seite legen mußte.
Darauf übergab ich die Arbeit einem mir gut empfohlenen Kopisten in Chaux-de-Fonds; derselbe arbeitete ebenfalls langsam, ließ einen Theil wieder von einem anderen Kopisten schreiben, und – was hier beiliegt, ist Alles, was ich in so langer Zeit erhalten, und, weil ich die Partitur nur wenige Tage in Händen hatte, selbst schreiben konnte.
Ich habe es seit mehreren Tagen sehr bedauert, daß ich nicht gleich von Anfang her Sie, verehrtester Herr Hofkapellmeister, gebeten habe, die ganze Copiatur durch Ihren Hofcopisten auf meine Kosten vornehmen zu lassen; nach der Erfahrung aber, die ich jetzt gemacht habe, und weil der Eifer in mir groß ist, daß Sie meine Symphonie baldigst erhalten möchten, bin ich so frei, Sie zu bitten, die noch fehlenden Stimmen und eine gewiß nicht überflüssige nochmalig genaue Durchsicht aller Stimmen # durch Ihren Hofkopisten besorgen zu lassen und der Betrag dieser Arbeit vermittelst Postnachnahme auf mich zu erheben.
Erlauben Sie, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, daß ich in der Hoffnung, durch diese Auseinandersetzung, deren Wahrhaftigkeit schon der blose Anblick der Stimmblätter bewirbt, mir Ihre Nachricht für mein unfreiwilliges Nichtworthalten gewonnen zu haben, diesen Gegenstand verlassen und noch Einiges über den Inhalt der Partitur sage.
Es ist ein Gefühl in mir, daß ich noch einmals ein größeres Wagniß gegen Sie begangen hätte, als jetzt, da ich im Begriffe bin, ich frei über die Absicht und den Inhalt dieser Symphonie gegen Sie zu äußern. Auch wenn ich bedenke, welcher – so sagt man wenigstens – überlebten Periode und welcher Gattung von Menschen Göthes „Werther“ angehört, und welchen Klang diese Persönlichkeit in so vieler Menschen Munde hat, und was Sie selbst, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, zu meinem Einfalle sagen werden, – so ist es eine aufrichtige Schüchternheit, mit welcher ich Ihnen nun bekenne, daß ich allerdings über „Werther’s Liebe“ Musik gemacht habe.
Zweierlei kann mir dieses Bekenntniß erleichtern: erstlich, weil ich meine eigene Werther’s Periode bereits seit Jahren hinter mir habe; zweitens, weil ich selbst damals, als ich sein Verehrer und Nachahmer war, es nicht so weit trieb wie Werther, deßhalb ich auch am Leben geblieben bin und meine ehemalige Geliebte auch meine Frau werden konnte und geworden ist.
Die sämmtlichen Motive der ersten 4 Sätze der Symphonie, sowie mehrerer Verwendungsweisen derselben sind schon vor Jahren in unmittelbarer Stimmung entstanden und aufnotirt worden, und zwar zu dem jetzt erfüllten Zwecke einer Symphonie. Eine solche konnte aber damals nicht entstehen, weil ich in den fraglichen Seelenzuständen zu lebhaft in Wirklichkeit befangen war. Nun erst, in neuester Zeit, könnte ich für das, was ich einst gelebt hatte, den künstlerischen Ausdruck mit der nöthigen Ruhe und Klarheit des Gemüthes versuchen. –
Seelenzuständen also (– aber nur reinen Seelenzuständen –), wie und in welcher Entwickelung sie in Göthe’s Romane gebildet sind, einen musikalischen Ausdruck zu geben, war meine Absicht.
Wie Werther bereits so sehr in seine überreitzte Gemüthsverfassung sich eingelebt hat, daß er zwar noch nicht ganz gehörlos für eine Stimme des Trostes und der Mahnung geworden ist, welche ihm in seinem eigenen Innern und von außen laut wird, aber doch seine dämonische Leidenschaftlichkeit das versöhnende Element stets überwuchert, und je länger, je entschiedener als Sieger über dasselbe sich erweist: – dies ist in kurzen Worten der Gang, welchen die Symphonie im ersten Satze gehen soll. Die hier einschlagenden Citate aus dem Buche lasse ich der Kürze wegen hier weg. Dagegen will ich folgende einzelne Periode zur Charakteristik des Andante citiren: –
„Wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Thal herauf kam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt – ich war ruhig, da ich anfing; nun weine ich wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich wird. –“1
Das Scherzo wiederholt im Ganzen den Gang des ersten Satzes, jedoch enthält der dort durchgeführte Gegensatz hier eine gereiztere, krankhaftere Färbung.
Zu meinem 4ten Satze schwebte mir Werther vor, wie sein falscher Heroismus um den letzten Grad der Ausbildung erreicht hat, wie seine Gemütskräfte steif und starr in demselben gebunden stehen, wie er in arger Selbsttäuschung sogar für das Verbrechen Rechtfertigung, für das Widerwärtigste ein reitzendes Kleid findet.
Mit diesem 4ten Satze wäre nun das beabsichtigte Seelengemälde eigentlich zu Ende gebracht gewesen, und ich hätte die Symphonie hier schließen können. Aber so befriedigend auch Göthe’s Roman mit dem Pistolenschuße und dem Leichenzuge ausgeht –, ich, als Musiker, konnte ja mit dergleichen letzten Dingen nicht endigen, hatte überhaupt nicht die Aufgabe, eine wirkliche Geschichte abzuschließen, – und überdieß glaubte ich, daß ein Zug nach endlicher Versöhnung und Beruhigung tief in dem Wesen der Tonkunst liege, und daß demselben ohne zwingende Gründe für das Gegentheil Genüge geleistet werden solle.
Deßhalb ließ ich Werther am Leben. Und ich ließ in meiner Fantasie seine düstere Zeit an ihm vorüber gegangen seyn, und mir erschien seine nun durch Jahre und Erfahrungen gereinigte und geläuterte Seele: – Aber Werther bleibt immer doch Werther; die Qualen seines früheren unvollkommenen Geisterlebens haben Spuren in seinem Gemüthe eingedrückt, die sich nicht wieder ganz vertilgen lassen; er ist nicht geschützt davor, daß nicht einmal wieder die früheren düsteren geistigen Zustände wie im fieberhaften Traume mild und schauerlich in seiner Erinnerung auftauchen; aber im Allgemeinen ist sein Leiden verklärt, gemildert, und tiefe Ruhe, tiefer Friede und energischer Sieg über seine Vergangenheit sind die dominirenden Zustände seiner geläuterten und versöhnten Gegenwart. – Dies waren die leitenden Anschauungen für den ersten Satz der Symphonie.
Nun, verehrter Herr Hofkapellmeister, will ich zu Ende seyn mit dem Reden über meine Symphonie, und auch gleich bald mit meinem ganzen Briefe. Ich schließe diesen nicht ohne große innerliche Bewegung. Ich halte Sie für den verdienstvollsten, bedeutendsten Mann im Bereiche der höheren Tonkunst unserer Zeit, und sehe es als eine freundliche höhere Fügung an, daß gerade Sie mir dem Unbekannten die Hand bieten in einer Weise, wie sie auch die Ihnen bekannteste und befreundetste Person nicht vollkommen erwarten könnte. Habe ich nun auch einen heißen, drängenden Wunsch, nämlich den, daß meine Arbeit würdig seyn möchte, von Ihnen zu solcher Ehre gebracht zu werden, wie Sie dieselbe bedingungsweise mir in Aussicht gestellt haben, so habe ich auch noch einen anderen Wunsch, der jenem gleich stark ist: nämlich Ihnen, hochverehrter Herr Hofkapellmeister etwas – denn wann vermöchte ich es ganz! – dankbar seyn zu können.
Ich zeichne mich, hochverehrter Herr Hofkapellmeister, in tiefster Hochachtung

Ihren
ganz ergebenen
Moritz Albrecht
(Musiklehrer in Murten, Canton
Freiburg in der Schweiz.)

Murten, d. 21 October 1853.

Autor(en): Albrecht, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Goethe, Johann Wolfgang von
Erwähnte Kompositionen: Albrecht, Moritz : Sinfonien, D-Moll
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1853102143

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Albrecht an Spohr, 21.09.1853. Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Johann Wolfgang von Goethe, Leiden des jungen Werther, 2. Aufl., Leipzig 1787, S. 262.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.10.2023).