Autograf: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (D-F), Sign. Mus. Autogr. A. Schmitt A 160

Hochverehrter Freund!

Und wenn mich Ihre Briefe auch immer sehr interessirten und erfreuten, so muß ich gestehen, daß mich Ihr letzter lieber Brief am meisten noch erfreute und erfrischte, so: daß mir eines Leben in die Adern kam, welches auch Noth thut, denn in der letzten Zeit befiel mich ein Eckel an dem jetzigen Treiben u an der heillosen Wirthschaft in allem und allem, daß ich im Geiste der Welt den ganzen Bündel an den Kopf geworfen habe.
Ihre Thätigkeit, und daß Sie ihre Biographie schreiben, und ein Sextett1 beendigt haben, war mir eine Mahnung: den weggeworfenen Bündel wieder zu holen und überhaupt wieder neue Hofnung zu schöpfen. Mehr, wie Sie wohl denken mögen hat mich beides erregt, denn sonderbarerweise arbeitete auch ich schon längere Zeit an meiner Biographie, aber da ich das beste u. das vielleicht nicht ganz uninteressante darin – nicht wohl veröffentlichen darf, indem ich – um mehr zu sein u. zu bleiben – Manche hätte verletzen müssen – so zerriss ich‘s wieder, u. die Sache kam ins Stocken. Und was das fragliche Sextett angeht, so habe auch ich in der letzten Zeit ein Solches geschrieben, nur mit dem Unterschiede: daß das Meine blos für Streichinstrumente ist.
Darf ich dem Urtheile anderer trauen, so sei eben dieß mein Sextett und eine Quartettsymphonie2 für Streichinstrumenten, die in einem Athemzuge mit dem Sextett geschrieben ist, mit von meinem Besten, wenigstens wurden beide Piecen mit viel Liebe u. Begeisterung exekutirt. Freund Speyer könnte Ihnen etwas Näherer darüber sagen, falls Sie es interessirt.
Veranlassung zu dieser Quartettsymphonie war einst Guhr, der – wie Sie vielleicht wissen u. davon gehört haben – einst Versuche hier im Museum gemacht hat: Violinquartetten stark besetzen zu lassen, war aber nicht geht. In meiner Quartettsymphonie suchte ich die Freiheit des Violinquartetts mit der kraft der Symphonie zu vereinen, und man sagt: es sei mir dieß gelungen. Gut einstudirt, mit einem Striche u. einer Applikatur etc. etc. klingt u. macht es sich ganz eigen.
Möchte wohl, daß Sie diese beiden Stücke, mit noch anderen, die ebenfalls später u. in meiner Mannesperiode geschrieben sind, dort einmal aufführten. Jedenfalls ist die Quartettsymphonie – wie viele meinten – etwas Neues, u. das Neue? interessirt ja, man will heut zu Tage nur Neues. Ob Gut? darnach fragen gar einige. Wenn mann nur ohne Mühe Musikanhören kann! Man will sich eben amüsiren und geniesen! von ächtem Kunstgenuß? - davon hört man selten mehr Etwas!
Wüßte ich, der es nur im Mindestens Etwas dazu beitrüge, daß es wieder besser würde, so würde ich mich wieder – wie früher – in Reih u. Glied stellen, u. wieder öffentlich auftreten u. Concerte geben. Noch geht‘s! und die Finger sind die Alten. Wenn nur der Haupt oben eben so beschaffen wäre!!! Aber da muß ich die Ausrufungszeichen machen. Aber es geht auch noch! Gott lob!
Die Mäuse laufen jetzt auf dem Tische herum! Sollte man dieß zu geben? Infam wurmet mich dieß! Nichts wie Zukunftsmusik! nichts wie Equilibristerei aus Dürftigkeiten und Abgeschmacktheiten, ohne Sinn u. Verstand – und ohne Form und Gehalt! Wie es eben den Leuten so einfällt. So recht schlechte Impromtus!
Noch nicht sehr lange fantasirte ich irgendwo, und ich muß sagen: das Herz zitterte mir während des Fantasirens wie ein Espenblatt, und als ich aufstand, was meinen Sie, was mir ein Mann sogar von Belang(???) sagte und that?: „er nahm meine Finger in seine Hand u sagte verwundernd(???): „die müssen ihnen doch sehr wehe thun!“ Ein Zuber Wasser über den Kopf hätte mich nicht mehr abkühlen können. Sehen Sie, so hören – oder vielmehr sehen die Leute jetzt Musik! Und doch darf man die Hofnung nicht aufeben, und sich nicht ganz zurückziehen, so fest(???) es Einem auch ankömt, wie mir.
Neulich träumte mir: der Nestor u. Tonmeister Spohr habe mich nach Cassel berufen, um den Winter einiges mal dort in den Concerten zuspielen u. Sachen von mir aufzuführen; als ich aber erwachte, so fühlte ich wohl, daß es ein Traum war. Wär‘s doch kein Traum! Gleich wär‘ ich da! Nun noch ein Wort über meinen Sohn Georg Aloys. Derselbe ist im Augenblick ohne Stelle und Beschäftigung, und da er sehr verstimmt darüber ist u. immer ein trauriges, niedergeschlagenes Gesicht darüber macht, so habe ich mir – ohne eigentlich von ihm angeregt u. aufgefort(?) zu sein – vorgenommen, mich in‘s Mittel zu schlagen und etwas für ihn zu thun, so sehr ich auch weiß: daß er seine künftige Laufbahn nur sich u. seiner Person allein verdanken möchte.
Um Ihnen Etwas über ihn zu sagen, bemerke ich: daß er bereits in Ulm, Würzburg und vorigen Winter in Coblenz Director am Theater war, und sich – wie Marschner einmal sagte, als Dirigirgenie erwieß. Daß derselbe als Clavierspieler und Componist tüchtig u. talentreich ist, werden Sie von ihm wie von mir erwarten, denn, hätte er nicht Talent gezeigt, so hätte ich natürlich nicht u. nie zugegeben, daß er sich diesem herrlichen aber doch sehr unglücklichen Stande hätte widmen dürfen.
Nebst diesen Eigenschaften besitzt er – für einen Musiker – ganz ungewöhnliche Kenntnissen u Bildung, u. spricht ohne Accent französisch, englisch und italiänisch. Der beste Sohn ist er gewiß, so wie sein Charakter von der edelsten Art ist. Kurz, er verdient empfohlen zu werden. r sich – kann er so wenig thun, wie ich für mich thun konnte, das heißt: nichts. Nehmen Sie ihn in Ihren Schutz! Ich weiß, daß Sie der Gelegenheiten Viele haben, jemanden zu empfehlen - und einen passenden Wirkungskreis zu verschaffen. So eben macht sich Aloys bereit eine Kunstreise zu machen, wohin? weiß er – glaub ich – selber noch nicht so recht. Die Rheingegend besucht er zu erst. Seine angenommene Stelle nach Zürich an‘s Theater als Director hat sich durch Löwes Unglück3 – welches Sie wohl gelesen u. erfahren haben – zerschlagen. Abgerechnet das Unglück von Löwe war mir‘s ganz recht, denn dort soll allzu viel politisirt werden, was uns nichts angeht. Auch soll Wagner dort – was man sagt – die erste Violine spielen was doch auch nicht angeht. Kurz, wenn Sie Etwas hören, was für Aloys passend wäre, so bitte ich mir‘s gütigst zu melden. Sie dürfen ihn getrost empfehlen, denn in der That, es wird überall, wohin man ihn stellt – u. welchen Posten man ihm anvertrauen dürfte – seinen Mann stehen u. mit Ehren bestehen.
Leider! ist er nur zu fein – geistig wie körperlich – organisirt für die Welt, und überhaupt zu gut und zu edel. Solche Leute verdienenaber eben daraum und desto eher und mehr empfohlen zu werden. Ich rechne auf Ihre Güte und Ihren großen Einfluß.
Heute feiern sie hier im Theater den „langen Tag“ mit dem Tannhäuser. Ist das nicht bezeichnend? Es wird aber wohl leer bleiben, da die Juden diesen Feiertag4 hochhalten. Auch ich werde ihn in einem gewissen Sinne heute mit feiern, daß heißt: nicht hinein gehen. Bin ich noch müde vom erstenmal hören! Schade, hübscher Text! Ein besserer Dichter u Schriftsteller ist der Mann, als Componist.
Was mich aber am meisten bei diesem Manne genirt, ist: seine Eitelkeit u. Anmaßung, die wirklich bodenlos ist. Bei(???) einiger Bescheidenheit sieht man ja sonst gerne durch die Finger und man freut sich ja herzlich, wenn einem Künstler etwas Gutes zu Theil wird, auch wenn dessen zu viel sein u. gegeben werden sollte, welches freilich leider! selten ist, besonders wenn es Madatore5 betrifft.
Nun – der Raum ist zu Ende aber nicht die Lust, Ihnen noch viel zu schreiben. Bitte, vergessen Aloys nicht! Dieses sollen für heute die letzten Worte sein, von

Ihrem Sie hochverehrenden
Aloys Schmitt.

Frankfurt a/m den 12ten October
1853.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Schmitt. Spohrs Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Offensichtlich ein Lesefehler Schmitts oder Schreibfehler Spohrs aus dem Vorbrief: stattdessen wohl Spohrs Septett op. 147.

[2] Bereits auf Sommer 1852 datiert in: Heinrich Henkel, Leben und Wirken von Dr. Aloys Schmitt, Frankfurt am Main 1873, S. 71.

[3] Vgl. „Zürich“, in: Didaskalia 19.08.1853, nicht paginiert; „Aus er Schweiz“, in: Deutsches Museum 4 (1854), S. 563-566, hier S. 564.

[4] 1853 fiel der Jom Kippur auf diesen Tag.

[5] „Madatore, im Scherze, nennt man solche Personen, die etwas zu bedeuten haben; die einen wichtigen Einfluß auf jemand haben; die Vornehmsten und Reichsten an einem Orte; auch wohl die Korenenn unter den Schönen einer Stadt.“ (Johann Ferdinand Roth, Gemeinütziges Lexikon für Leser aller Klaßen, Nürnberg 1791, S. 689).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.02.2018).