Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

London – Soho Villa – Worsworth.

Sehr geehrter Herr Kapellmeister!

Gestern Abend wurde Ihre Oper Jessonda zum ersten Male und zwar mit sehr vielem Beifalle gegeben. Die 1te Aria der Jessonda, so wie die Aria des Obersten im 2ten Akte, in G.moll mit Alltto1 As(?).dur wurden wiederholt.2 Ich bin versichert mehrere Andere Sachen hätten verdient, wiederholt zu werden, doch das Englische Puplikum scheint nur für die Sänger zu wiederholen – Signor Luchesi war nicht an seinem Platze im 1ten Akte, im 2ten u. 3ten hat er recht gut gesungen. Die Chöre waren ganz ausgezeichnet3, Das Terzett im zweiten Akte sehr wohl, das bekannte Duett wurde zu schnell genommen. Die Aria mit dem Duett u. die Arie im dritten Akte wurden ganz vorzüglich gegeben. –
Madame Castellan war ganz an Ihrem Platze. Sie, wie Mad. Bosio, brachten etwas deutsche Wärme u. Sentimentalität. – Herr Formes verstand seine Parthie viel besser, als im vorigen Jahre in Faust. Er war gestern vollkommen. – Am Ende der Oper wurden die 4 ersten Sänger Mad. Bosio – Castellan Signor Luchesi u. Herr Formes sehr warm hervorgerufen. –
Sie sehen, Herr Kapellmeister, wie ich mir die Freiheit nehme, Ihnen die Ausführung Ihrer Oper mitzutheilen4, doch, da ich Ihren Wunsch sich äußern hörte bei meinem letzten Besuche, werden Sie es mir wohl nicht übel nehmen. –
Für meinen Theil war ich ganz erstaunt, eine tragische Oper am Ende der Saison gefallen zu sehen; besonders von einem Puplikum, das in letzter Zeit nichts wie Meyerbeer u. Rossini gehört hat. Aber die Musik ist so religiös frisch, daß es nicht ausbleibt u. sie eine Lieblingsoper werden wird.
Sie hinterließ gestern einen tiefen sehr tiefen Eindruck. –
Hiermit schließe ich meine Mittheilung hochverehrter Herr Kapellmeister u. bitte um Entschuldigung für meine Freiheit.
Unter Empfehlungen an Madame Spohr bin ich in

Aller
Verehrung u. Dankbarkeit
Ihr
Schüler
Leo Kerbusch.

Die Dekorationen der 1ten Scene waren besonders gut, überhaupt hat man darin viel aufgeboten die Oper zu verherrlichen. –

Autor(en): Kerbusch, Leo
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Bosio, Angiolina
Castellan, Jeanne
Formes, Karl
Lucchesi, Giuseppe
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Jessonda
Erwähnte Orte: London
Erwähnte Institutionen: Covent Garden <London>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1853080740

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kerbusch an Spohr, 20.10.1850.

[1] Recte: Larghetto.

[2] Vgl. Louis Spohr, Jessonda. Oper in drei Akten, hrsg. v. Gustav Kogel, Leipzig [1881], S. 67-73 (Arie der Jessonda) und 129-137 (Arie des Tristan). Siehe auch: „Mdlle. Bosio sing the music of Jessonda with more feeling and expression than we have observed her to manifest in her other performances – the character seems one excellently suited to her. ON the second evening both her principal arias, one in the first, the other in the third act, were enthusiastically encored. Signor Belletti also sang the music of Tristano ’s part admirably, and was encored in the air ’Di militari onori’ in the second act“ (W.G., „[Spohr’s opera of Jessonda]“, in: Critic 12 (1853), S. 444f., hier S. 445). James Davison deutet an, dass die Arie des Tristan bereits vorher in London populär war: „The well-known air, ’Di militari onori’ (known in England as ’Amid the battles raging’) could hardly have been sung with greater spirit“ („The Royal Italian Oper“, in: Musical World 31 (1853), S. 510-513, hier S. 512).

[3] Vgl. dagegen „Der Chor war wie gewöhnlich schlecht“ (C.A., „Londoner Briefe. (Spohr’s Jessonda – Project einer englischen Oper)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 1 (1853), S. 52f., hier S. 53); „The chorus was less perfect: but that may be remedied on another occasion“ („[James William Davison], „The Royal Italian Oper“, in: Musical World 31 (1853), S. 510-513, hier S. 512); aber auch: „the choruses, though deficient in numerical strenth, were good“ ([Holmes], „[Jessonda was performed]“, in: Spectator (1853), S. 773).

[4] „mitzutheilen“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.03.2022).